Wenn ich heute sage, dass ich Lena nicht nur den Job, sondern auch ein Stück meines alten Ichs zurückgegeben habe, klingt das wie ein rührseliger Schluss.
Aber die Wahrheit ist: Ihre Geschichte war nur der Anfang. Mein eigentliches Lernen begann erst danach.
Ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr hatte sich unser Alltag auf den ersten Blick kaum verändert. Die Bänder liefen, die Lkw warteten, die Schichten waren voll, die Tabellen lagen wie immer auf meinem Schreibtisch. Und doch war etwas anders.
Es war, als hätte jemand die Neonlampen minimal gedimmt und dafür die Konturen der Menschen schärfer gestellt.
Lena arbeitete wieder in ihrer alten Reihe. Sie war pünktlich, oft sogar zu früh da. Manchmal beobachtete ich sie aus der Entfernung. Sie hatte noch immer diesen müden Schatten in den Augen, aber da war jetzt auch etwas Neues: ein vorsichtiger Trotz, eine leise Entschlossenheit, nicht noch einmal an dieser unsichtbaren Kante zu stehen, über die sie beinahe gestürzt wäre.
In der Pause saß sie manchmal mit einer Kollegin zusammen, einer alleinerziehenden Mutter aus der Kommissionierung. Sie beugten sich über Formulare, suchten Telefonnummern raus, strichen etwas durch, schrieben neu. Ich erfuhr, dass es um eine Übergangswohnung ging, um Anträge, um Kinderbetreuung. Dinge, die ich früher unter „Privatsache“ abgehakt hätte.
Der kleine Sozialfonds, den wir eingerichtet hatten, war zunächst nichts weiter als eine Idee in einem Protokoll. Aber dann legte eine Kollegin einen Fünfziger in den Umschlag. „Für Notfälle“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Ein Schichtleiter gab sein Weihnachtsgeld dazu. Ein junger Springer, der selbst kaum etwas auf der Seite hatte, steckte einen Zehner hinein, „falls es mal jemand dringender braucht als ich“. Der Umschlag wuchs. Und mit ihm ein Gefühl von gemeinsamer Verantwortung, das ich lange vermisst hatte.
Eines Morgens, ein paar Monate später, stand ich wieder an der Stechuhr. Die ersten Kolleginnen und Kollegen kamen durch das Drehkreuz, gähnten, lachten, tippten ihre Nummern ein. Da fiel mir auf, dass einer fehlte.
Sven, einer der jüngeren Lagerarbeiter, Anfang zwanzig, sonst immer der erste in der Halle, weil er noch schnell einen Kaffee trinken wollte, bevor die Paletten rollten.
6:03 Uhr. 6:05 Uhr. 6:07 Uhr.
Früher hätte ich innerlich die Abmahnliste geöffnet. Ich hätte mich an Zahlen erinnert, an „Signalwirkung“, an „Konsequenz“.
Diesmal dachte ich zuerst an einen blauen Astra, beschlagene Scheiben und ein Kind unter Decken.
Um 6:10 sah ich ihn über den Hof rennen. Keine Abkürzung, kein lässiges Schlendern. Er rannte, als hinge etwas an diesem Moment, das viel größer war als eine Stempeluhr. Sein T-Shirt war unter der offenen Jacke verrutscht, die Haare klebten an der Stirn. Er blieb vor mir stehen, keuchend, die Hände auf den Knien.
„Es tut mir leid, Herr Keller“, stieß er hervor. „Mein Vater…“ Er brach ab, atmete schwer. „Er ist heute Morgen gefallen. Ich musste auf den Notarzt warten. Ich hab versucht, anzurufen, aber ich hing in der Warteschleife bei der Leitstelle.“
Die alte Stimme in meinem Kopf wollte automatisch sagen: „Wir klären das später, jetzt müssen Sie an die Arbeit.“
Die neue Stimme sagte gar nichts. Sie hörte zu.
„Ihr Vater wohnt allein?“, fragte ich.
Sven nickte. „Ja. Seit meine Mutter weg ist. Ich fahre vor der Schicht immer kurz vorbei, um zu sehen, ob alles okay ist. Heute war es das nicht.“ Seine Augen wurden glasig, aber er biss die Zähne zusammen. „Ich brauch den Job, Herr Keller. Aber ich konnte ihn nicht auf dem Boden liegen lassen.“
Vor einem halben Jahr hätte ich ihm erklärt, dass ich „ja Verständnis habe“, aber die Regeln seien nun einmal die Regeln.
Jetzt hörte ich mich sagen: „Kommen Sie nach der Schicht kurz in mein Büro. Wir sprechen in Ruhe darüber. Gehen Sie erst mal in die Halle, ich melde vorne, dass Sie da sind.“
Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade zwei Minuten Atemluft unter Wasser geschenkt. „Danke“, murmelte er und verschwand im Umkleideraum.
Später saß er in meinem Büro, die Hände fest ineinander verkrallt. Ich ließ ihn erzählen. Von einem Vater, der immer mehr vergisst. Von Rechnungen, die sich stapeln. Von der Angst, dass irgendwann jemand sagt: „Wir brauchen jemanden, auf den wir uns verlassen können“ und damit meint: jemanden ohne Verantwortung außerhalb des Werksgeländes.
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