Warum ich die tödliche Stille meines Hauses gegen das bunte Chaos einer Studenten-WG tauschte

Mein Sohn hat die Polizei gerufen, weil er dachte, ich wäre entführt worden.

Er verfolgt meinen Standort auf dem Handy. Und als er um 2 Uhr nachts an einem Dienstag den blinkenden Punkt mitten im Uni-Viertel gesehen hat, ist er durchgedreht.

Er hat ins Telefon geschrien: „Papa! Wer hat dich? Bist du okay?“

Ich habe gelacht, einen Schluck von meinem günstigen Bier genommen und gesagt: „Mich hat niemand, Richard. Ich warte nur, bis ich ans Mikro darf. Gleich singt hier einer ‚Über den Wolken‘.“

Ich heiße Franz. Ich bin 74 Jahre alt. Und vor drei Monaten habe ich die schönste Form von Wahnsinn begangen, die mir in meinem ganzen Leben passiert ist.

Ich habe mein Einfamilienhaus im Vorort verkauft – das mit der Hecke, dem Gartenschuppen und dem ewigen Rasenmähen – und bin in eine etwas heruntergekommene Dreier-WG gezogen. Mit drei Studierenden.

Meine Familie dachte, ich hätte den Verstand verloren.

Wir haben uns zu einem „Krisengespräch“ in einem Café getroffen, irgendwo zwischen Filterkaffee und Kuchenstück. Meine Schwiegertochter, mit diesem Blick, den Leute sonst nur Kleinkindern oder völlig Verwirrten schenken, hat gesagt: „Franz, bitte. Sei vernünftig. Das ist eine Midlife-Crisis – nur dreißig Jahre zu spät.“

Ich habe sie angeschaut und ruhig gesagt: „Nein, Karin. Das ist keine Krise des Alters. Das ist eine Krise der Stille.“

Denn darüber reden wir zu wenig. Über die Stille.

Seit meine Frau Sabine vor zwei Jahren gestorben ist, hat sich dieses große Haus nicht mehr wie ein Erfolg angefühlt. Es hat sich angefühlt wie ein Mausoleum.

Es war groß, ja. Groß genug, um sich darin zu verlieren. Aber es war auch so still, dass ich manchmal das Gefühl hatte, die Wände würden mitatmen und zwar gegen mich.

Die Stille war nicht friedlich. Sie war schwer.

Sie saß mir auf der Brust, besonders nachmittags, wenn die Sonne schräg ins Wohnzimmer fiel und die Staubteilchen im Licht tanzten. Und ich plötzlich merkte: Die einzige Stimme, die ich seit Tagen gehört hatte, war die im Fernsehen.

Ich bin nicht an einem Herzinfarkt gestorben. Nicht an Diabetes. Ich bin an Ruhe gestorben.

Nur langsam.

Also habe ich das Schild aufgehängt: Zu verkaufen.

Ich habe den Aufsitzmäher verkauft, die Esszimmergarnitur, an der nie jemand saß, und den Porzellanschrank mit Tellern, die wir „für besondere Anlässe“ aufgehoben hatten und dann kam nie wieder ein Anlass.

Ich habe zwei Koffer gepackt und eine Anzeige an einem schwarzen Brett beantwortet:

„Zimmer frei. Miete pünktlich. Kein Drama.“

Als ich vor der Wohnungstür stand, haben mich die drei jungen Leute angeschaut, als wäre ich vom Ordnungsamt.

Jannis, ein großer Kerl mit zerzausten Haaren und Kapuzenpulli, blinzelte. „Äh … sind Sie … der Vermieter?“

„Nein“, sagte ich und hob eine Kiste Limo hoch. „Ich bin Franz. Der neue Mitbewohner. Und keine Sorge – mein Geld kommt pünktlicher als eure Abgaben.“

Die erste Woche war ein Kulturschock.

Es war Chaos.

Musik durch dünne Wände um Mitternacht. Schuhe überall – nur nicht da, wo sie hingehörten. Und die Spüle … die Spüle sah aus wie eine archäologische Ausgrabung aus der Steinzeit der Tiefkühlpizza.

Sie waren misstrauisch.

Am ersten Abend saßen wir auf einem Sofa, das nach Chips und irgendwas Süßem roch. Leon räusperte sich und fragte: „Also, Franz … haben Sie irgendwelche … äh … Themen? Rufen Sie die Polizei, wenn wir Besuch haben?“

Ich lehnte mich zurück. „Kinder, ich habe die siebziger Jahre überlebt. Ich habe Dinge gesehen, die euch die Frisur neu sortieren würden. Solange ihr niemandem wehtut und hier keine Bombe baut, habe ich nichts gesehen. Aber wenn noch einmal jemand eine leere Milchpackung in den Kühlschrank stellt, dann reden wir.“

Da war zum ersten Mal dieses kurze Lachen. Unsicher, aber echt.

Und langsam hat sich etwas verschoben. Ich war nicht mehr nur „der Alte“. Ich wurde der, der die Dinge zusammenhält. Der Hüter des Putzplans. Der Meister der Pfanne.

Vor allem aber habe ich gemerkt: Diese drei sind nicht faul. Sie sind nicht „zu empfindlich“. Sie sind nicht „verwöhnt“.

Sie sind müde.

So müde, wie man nur ist, wenn man gleichzeitig studiert, arbeitet, Rechnungen sortiert, in Prüfungen sitzt, sich Sorgen macht und trotzdem so tut, als wäre alles „easy“.

Wir Älteren denken oft, sie würden nicht anpacken. Aber die Wahrheit ist: Sie kämpfen – nur gegen andere Dinge.

Gegen Mieten, die jedes Jahr steigen. Gegen Papierkram. Gegen Druck. Gegen dieses Gefühl, dass man immer knapp zu spät dran ist.

Sie essen nicht Nudeln aus Leidenschaft. Sie essen Nudeln, weil sie billig sind. Also habe ich beschlossen, mich einzumischen.

An einem Dienstag kam Jannis nach einem Doppelschicht-Tag nach Hause. Er sah aus, als hätte ihn der Tag ausgespuckt.

In der Küche stand ein Bräter im Ofen. Rinderbraten. Seit Stunden. Mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln. Der Duft hing in der Wohnung wie eine warme Decke.

Er blieb im Türrahmen stehen, als hätte ihn jemand festgenagelt.

„Setz dich“, sagte ich.

Er hat gegessen. Erst schnell. Dann langsamer. Dann drei Teller. Kein Wort.

Als er den Kopf hob, standen ihm Tränen in den Augen. „Meine Mutter hat das früher gemacht“, murmelte er. „Als alles noch … normal war.“

Das war der Moment, in dem die WG etwas anderes wurde. Nicht nur eine Zweckgemeinschaft.

Ein Zuhause auf Zeit.

Von da an nannten sie mich „WG-Papa“. Manchmal auch „Haus-Pop“, wenn sie albern waren. Ich wecke sie, wenn sie wieder mal den Wecker überhören und um acht eine Klausur haben.

Ich habe Mira gezeigt, wie man in einer Werkstatt nicht über den Tisch gezogen wird: ruhig bleiben, Fragen stellen, sich den Kostenvoranschlag geben lassen.

Ich habe Leon beigebracht, dass man ein Hemd bügeln kann, statt jedes Mal ein neues zu kaufen, wenn es aussieht wie ein zerknülltes Plakat.

Und sie?

Sie haben mich ins 21. Jahrhundert geschubst – freundlich, aber bestimmt.

Sie haben mir gezeigt, wie man kontaktlos bezahlt, ohne an der Kasse mit Kleingeld zu kämpfen.

Sie haben mir eine Musik-App eingerichtet und eine Playlist gebaut, die sie „Franz’ Kram“ genannt haben, als wäre ich ein eigenes Genre.

Und sie haben mir erklärt, was ihre Wörter bedeuten. Nicht alle – manche wollte ich gar nicht wissen. Aber genug, um nicht komplett daneben zu stehen.

Früher dachte ich: Die Jüngeren hängen am Handy, weil sie unsozial sind. Ich lag falsch.

Sie hängen daran, weil sie irgendwo da draußen ein bisschen Verbindung suchen. Ein bisschen Halt. In einer Welt, die sich oft anfühlt, als würde sie jeden Tag schneller werden.

Eines Freitagabends sagten sie: „Franz, zieh dein bestes Hemd an.“

„Wofür?“

„Wir gehen raus. Keine Ausreden.“

Sie schleppten mich in eine Kneipe nahe der Uni. Klebriger Boden, Neonlicht, junge Gesichter, die noch an das Morgen glauben – auch wenn sie so tun, als wäre ihnen alles egal.

Am Eingang rief Mira dem Türsteher zu: „Der ist bei uns! Das ist unser Klassiker!“

Ich wusste nicht, was sie damit genau meinte, aber es klang nach etwas, das man nicht ablehnt. Jannis drückte mir ein Getränk in die Hand. „Keine Sorge, Franz. Heute ist Karaoke.“

Ich hatte seit einer Hochzeit Ende der Neunziger nicht mehr öffentlich gesungen. Damals auch nur, weil Sabine mich gezogen hat, als wäre ich ein störrischer Einkaufswagen.

Aber die Stimmung … sie war ansteckend. Nicht nervig. Lebendig.

Als mein Name aufgerufen wurde, stand ich auf, als würde ich zu einer Prüfung gehen.

Ich hätte etwas Modernes wählen können. Irgendein Lied, das die jungen Leute gerade fühlen. Aber ich wählte etwas, das ich kannte. Etwas, das nach Heimat schmeckt, selbst wenn man nicht mehr weiß, wo Heimat eigentlich ist.

Ich wählte: „Über den Wolken“.

Und Jannis muss morgen zum Vorstellungsgespräch und kann noch immer keinen Krawattenknoten.

Ich bin nicht mehr damit beschäftigt, langsam zu verschwinden. Ich bin damit beschäftigt, zu leben.

Und wenn du irgendwo sitzt – in einem großen, stillen Haus – und wartest, dass das Telefon klingelt, als bräuchtest du eine Erlaubnis, um wieder Mensch zu sein:

Warte nicht.

Such dir den Lärm.

Wir sind nicht dafür gemacht, leise aus dem Leben zu rutschen.

Wir sind dafür gemacht, zu singen, bis die Stimme bricht – umgeben von Menschen, die uns beim Namen nennen und nicht nach unserem Alter.

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