Warum ich die tödliche Stille meines Hauses gegen das bunte Chaos einer Studenten-WG tauschte

Der Krawattenknoten war ein Windsor. Doppelt gebunden, akkurat, ein kleines Kunstwerk der Symmetrie an einem Hals, der vor Nervosität pulsierte.

Ich zog den Knoten fest und klopfte Jannis auf die Schulter. Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn mit einem Stromkabel berührt.

„Atmen, Junge“, sagte ich. „Du hast das Studium fast fertig. Du hast zwei Praktika überlebt, bei denen du vermutlich mehr Kaffee gekocht als gelernt hast. Die werden dich lieben.“

Jannis starrte in den billigen Flurspiegel, der an einer Ecke gesprungen war. „Und wenn sie fragen, warum ich ein Semester länger gebraucht habe?“

„Dann sagst du die Wahrheit“, antwortete ich und zupfte sein Sakko zurecht. „Dass du gearbeitet hast, um deine Miete zu zahlen. Das zeigt Charakter. Chefs mögen Charakter. Zumindest die guten.“

Er drehte sich um. Dieser große, schlaksige Kerl, der nachts manchmal Fortnite spielt, bis ihm die Augen brennen, sah mich an wie ein kleiner Junge, der am ersten Schultag Angst hat, den Bus zu verpassen.

„Danke, Franz“, sagte er leise. „Echt jetzt. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich im Schlafanzug hingegangen.“

„Geh jetzt“, brummte ich. „Und wehe, du kommst ohne den Job zurück. Ich habe Rouladen geplant. Rouladen schmecken nicht nach Niederlage.“

Als die Tür ins Schloss fiel, war es wieder da. Dieses Gefühl. Nicht von Leere, wie damals in meinem großen Haus. Sondern von Ruhe nach dem Sturm.

Ich machte mir einen Kaffee. Nicht aus der Kapselmaschine, die Leon angeschleppt hatte und die Geräusche machte wie ein startender Düsenjet, sondern ganz altmodisch mit dem Porzellanfilter.

Das war mein Leben jetzt.

Es war drei Monate her, seit ich Richard am Telefon gesagt hatte, dass mich niemand entführt hat. Aber mein Sohn hatte noch immer nicht aufgegeben. Er war wie ein Terrier, der sich in eine Hosenbeine verbissen hat.

Er rief nicht mehr die Polizei. Er tat etwas Schlimmeres. Er kam „zufällig“ vorbei.

Zwei Tage nach Jannis’ Vorstellungsgespräch klingelte es. Es war ein Donnerstagvormittag. Die WG war leer, alle waren in der Uni oder bei der Arbeit.

Ich öffnete die Tür und da stand er. Richard. Im Anzug, den Autoschlüssel vom Dienstwagen noch in der Hand, den Blick kritisch über den abgeblätterten Lack des Türrahmens gleiten lassend.

„Papa“, sagte er. Die Begrüßung klang weniger wie ein Hallo und mehr wie eine Diagnose.

„Richard“, entgegnete ich und trat beiseite. „Komm rein. Aber zieh die Schuhe aus. Leon hat gestern gewischt, und wenn du Dreck reinträgst, kriegst du Ärger mit dem Küchendienst.“

Richard trat ein, als würde er eine kontaminierte Zone betreten. Er sah den Stapel Fachbücher auf dem Boden, die Post-its an der Wand („Milch kaufen!“, „Miete an Franz!!“, „Leon stinkt“), und seine Stirn legte sich in tiefe Falten.

Wir setzten uns in die Küche. Ich bot ihm Kaffee an. Er lehnte ab. Natürlich.

„Wie lange soll das noch so gehen, Papa?“ fing er an, ohne Umschweife.

„Wie lange soll was gehen?“ Ich nahm einen Schluck Kaffee und genoss die Wärme der Tasse in meinen Händen.

„Dieses… Experiment. Das Campinglager hier.“ Er wedelte mit der Hand durch den Raum. „Du bist 74. Du hast dein Leben lang gearbeitet. Du hast dir Komfort verdient. Karin und ich haben uns eine Residenz angesehen. Betreutes Wohnen, aber gehoben. Parkettboden. Ein eigener Balkon mit Blick auf den Stadtpark. Kein Lärm. Keine Studenten.“

Ich lächelte milde. „Richard, hast du mir eigentlich zugehört, als ich dir von der Stille erzählt habe?“

„Aber das hier ist keine Lösung!“ Seine Stimme wurde lauter. „Was passiert, wenn du fällst? Was passiert, wenn du krank wirst? Glaubst du, diese Kinder kümmern sich um dich? Die haben ihr eigenes Leben. Du bist für die nur ein günstiger Koch und ein lustiges Maskottchen.“

Der Satz traf mich. Nicht, weil er wahr war. Sondern weil er genau die Angst aussprach, die ich ganz tief unten manchmal selbst hatte. War ich nur nützlich? War ich nur geduldet?

„Sie sind meine Mitbewohner, Richard. Nicht meine Pfleger. Und ich bin nicht ihr Maskottchen.“

„Papa, bitte. Sei realistisch.“ Er legte seine Hand auf meinen Arm. Seine Hand war warm, aber sein Griff war fordernd. „Komm mit uns. Wir haben das Gästezimmer renoviert. Nur für den Übergang, bis die Wohnung in der Residenz frei ist.“

In diesem Moment ging die Wohnungstür auf.

Lärm schwappte herein. Lachen. Das Geräusch von Einkaufstüten.

Mira und Leon kamen herein, beladen wie Esel. Sie sahen Richard, hielten kurz inne, und dann rief Mira: „Franz! Wir haben den guten Wein geholt! Jannis hat geschrieben!“

Sie ließen die Tüten auf den Küchentisch fallen, ignorierten Richards steifen Anzug völlig und umarmten mich beide gleichzeitig von der Seite.

„Er hat den Job!“, quietschte Mira. „Er fängt nächsten Monat an! Junior Consultant oder so was Wichtiges!“

Leon grinste und zog eine Flasche Rotwein aus der Tüte. „Und wir haben Zutaten für Rouladen. Aber du musst uns zeigen, wie man die rollt, ohne dass alles an der Seite rausquillt.“

Dann drehte sich Mira zu Richard um, streckte ihm die Hand hin und sagte mit diesem entwaffnenden Lächeln, das sie hatte: „Hi! Sie müssen der Sohn sein, der immer Angst hat. Ich bin Mira. Wir passen schon auf ihn auf, keine Sorge.“

Richard war sprachlos. Er starrte auf Mira, auf die Weinflasche, auf mich.

„Wir feiern heute Abend“, sagte ich ruhig zu Richard. „Bleib doch.“

„Ich… ich muss zurück ins Büro“, stammelte er. Er stand auf, sichtlich unwohl in dieser Wolke aus jugendlicher Energie und Chaos. „Wir reden später, Papa.“

Als er ging, sah er nicht wütend aus. Er sah verwirrt aus. Als hätte er gerade gesehen, wie ein Fisch Fahrrad fährt.

Der Abend wurde lang. Die Rouladen waren perfekt – auch wenn Leons erste Versuche aussahen wie verunglückte Pakete der Post. Wir saßen in der Küche, Jannis erzählte von seinem Gespräch, und wir tranken den Wein, der eigentlich zu teuer für ihr Budget war, aber sie hatten zusammengelegt.

Doch das Leben ist kein dauerhafter Sitcom-Moment. Zwei Wochen später passierte das, wovor Richard gewarnt hatte.

Es war ein Dienstag. Ich wollte aufstehen, aber mein Körper sagte Nein.

Meine Glieder waren schwer wie Blei. Mein Kopf dröhnte. Fieber. Eine richtige, handfeste Grippe, die sich anfühlte, als hätte mich ein LKW überrollt.

Ich blieb liegen.

Gegen zehn klopfte es an meiner Zimmertür.

„Franz? Alles okay? Du hast deinen Morgenkaffee verpasst.“ Es war Jannis.

„Nur eine Erkältung“, krächzte ich. Meine Stimme klang wie Reibeisen auf Beton. „Geh zur Arbeit.“

Zehn Minuten später stand er in meinem Zimmer. Er hatte nicht seinen Anzug an. Er hatte Jogginghosen an.

„Ich habe mich krankgemeldet“, sagte er knapp.

„Bist du wahnsinnig?“ Ich versuchte mich aufzusetzen, aber mir wurde schwindelig. „Dein neuer Job… Probezeit…“

„Halt die Klappe, Franz“, sagte er liebevoll. „Bleib liegen. Ich mach Tee. Leon ist zur Apotheke.“

Die nächsten drei Tage waren ein Nebel aus Fieberträumen, Hustensaft und Fürsorge.

Ich hatte erwartet, dass sie genervt wären. Dass sie die Musik leiser drehen müssten, dass ich zur Last falle.

Stattdessen erlebte ich eine Choreografie der Zuneigung, die mich beschämte und rührte.

Mira kam nach der Uni und saß an meinem Bett. Sie las mir nicht vor – das wäre zu altmodisch gewesen. Sie erzählte mir den neuesten Klatsch vom Campus, während sie mir kalte Waschlappen auf die Stirn legte.

Leon kochte Suppe. Es war eine Tütensuppe, die er mit frischem Gemüse „gepimpt“ hatte, wie er es nannte. Sie schmeckte furchtbar salzig und absolut herrlich.

Und Jannis? Jannis übernahm das Kommando. Er koordinierte, wer wann da war, damit ich nie allein war.

Am dritten Tag, als das Fieber gerade sank und ich mich fühlte wie ein ausgewrungenes Handtuch, stand plötzlich Richard wieder in der Tür.

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