Jannis hatte ihn angerufen.
Richard kam herein, den Blick voller Panik. „Ich packe deine Sachen“, sagte er sofort, als er mich blass in den Kissen sah. „Das war’s. Ab ins Krankenhaus oder zu uns. Das hier ist unverantwortlich.“
Er griff nach meiner Reisetasche, die in der Ecke stand.
„Lassen Sie die Tasche stehen.“
Richard drehte sich um. Jannis stand im Türrahmen. Er trug seine Kapuzenjacke und hatte die Arme verschränkt. Er sah nicht mehr aus wie der unsichere Student. Er sah aus wie ein Mann.
„Bitte?“ fragte Richard kühl.
„Franz hat Fieber. Das Fieber ist runter. Er hat gegessen, er hat getrunken, und er schläft viel. Ihn jetzt durch die Stadt zu zerren, ist das Schlechteste, was Sie machen können“, sagte Jannis ruhig.
„Sie sind kein Arzt“, blaffte Richard.
„Nein“, sagte Jannis. „Aber ich bin sein Mitbewohner. Und Mira studiert im fünften Semester Medizin, auch wenn sie noch keine Ärztin ist, weiß sie, wie man einen Puls misst. Wir haben das im Griff.“
Richard sah mich an. Ich lag da, schwach, aber lächelnd.
„Er hat recht, Richard“, flüsterte ich. „Ich bin hier gut aufgehoben.“
Richard ließ die Tasche sinken. Er sah sich im Zimmer um. Auf dem Nachttisch standen drei verschiedene Sorten Tee, eine Schachtel Medikamente, ein Teller mit geschnittenem Apfel.
Er sah die Fürsorge. Er sah, was er nicht hatte glauben wollen: Dass diese Verbindung echt war.
Er setzte sich schwer auf den Stuhl neben meinem Bett. Seine Schultern sanken nach unten.
„Ich mache mir doch nur Sorgen“, sagte er leise. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er nicht wie der Manager der Familie klang, sondern wie mein Sohn.
„Ich weiß“, sagte ich und streckte meine Hand aus. Er nahm sie. „Aber Sorgen sind wie ein Schaukelstuhl, mein Junge. Sie beschäftigen dich, aber sie bringen dich nirgendwo hin.“
Jannis räusperte sich leise. „Ich… äh… mach dann mal Kaffee für alle. Richard, schwarz, oder?“
Richard sah auf. Ein kleines, echtes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Schwarz. Danke, Jannis.“
Es dauerte noch eine Woche, bis ich wieder fit war. Aber etwas hatte sich verändert. Der Graben zwischen meinen zwei Welten war zugeschüttet worden.
Weihnachten kam schneller als gedacht.
Früher, im großen Haus, war Weihnachten eine steife Angelegenheit gewesen. Silberbesteck, Gans, gedämpfte Gespräche, klassische Musik im Hintergrund.
Dieses Jahr war es anders.
Wir feierten in der WG. Der „Baum“ war eine riesige Zimmerpflanze, die Mira mit Lichterketten und Christbaumkugeln behängt hatte. Es sah absurd aus. Es sah wunderschön aus.
Ich hatte Richard und Karin eingeladen. Und meine Enkelin Sophie, die ich sonst nur an Geburtstagen sah, weil sie „so viel Stress in der Schule“ hatte.
Sophie, 16 Jahre alt, saß auf dem Boden neben Leon und ließ sich erklären, wie man auf TikTok viral geht. Sie lachte. Ein echtes Lachen, nicht dieses höfliche Kichern, das sie mir sonst schenkte.
Karin stand mit Jannis in der Küche. Ich hörte Gesprächsfetzen. Es ging um Rinderbraten. Karin, die sonst niemanden in ihre Küche ließ, notierte sich tatsächlich etwas auf einer Serviette, was Jannis ihr sagte.
Und Richard?
Richard saß auf dem durchgesessenen Sofa, ein Bier in der Hand (nicht das teure Craft-Beer, das er sonst trank, sondern unser WG-Bier), und hörte Mira zu, die wild gestikulierend von ihrer Prüfung in Anatomie erzählte.
Ich stand einen Moment lang im Flur und beobachtete die Szene.
Der Geruch von Rotkohl und Braten mischte sich mit dem Duft von billigen Duftkerzen, die Leon aufgestellt hatte. Es war laut. Es war chaotisch. Es war eng.
Jemand hatte „Last Christmas“ aufgelegt, und alle stöhnten auf, aber niemand machte es aus.
Ich dachte an das große, stille Haus zurück. An die Wände, die geatmet hatten. An den Staub, der im Sonnenlicht tanzte, ohne dass ihn jemand aufwirbelte.
Ich dachte an meine Frau Sabine. Sie hätte das hier geliebt. Sie hätte über die Pflanze gelacht und Leon gezeigt, wie man Servietten faltet. Sie fehlte mir. Jeden Tag.
Aber das hier… das war kein Ersatz für das, was ich verloren hatte. Es war etwas Neues.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Es war Richard.
„Du siehst gut aus, Papa“, sagte er.
„Ich fühle mich gut“, antwortete ich.
„Ich habe immer gedacht, du läufst vor dem Alter weg“, sagte er und schaute zu Sophie, die gerade versuchte, Leon einen Tanzschritt beizubringen. „Aber du bist nur woanders hingelaufen.“
„Ich bin zum Leben gelaufen, Richard“, sagte ich.
Er nickte. „Ich glaube, ich verstehe es jetzt. Ein bisschen zumindest.“ Er stieß mit seiner Flasche sanft gegen meine. „Frohe Weihnachten, WG-Papa.“
Später am Abend, als alle satt und ein bisschen beschwipst waren, holte Leon seine Gitarre raus.
Er konnte nur vier Akkorde, aber die konnte er laut.
„Los, Franz!“, rief Mira. „Dein Solo!“
Ich wehrte ab, lachte, schüttelte den Kopf. Aber Sophie, meine Enkelin, sah mich mit großen Augen an. „Opa, du singst? Echt jetzt?“
In ihren Augen war plötzlich ein neues Interesse. Ich war nicht mehr nur der alte Mann, der Geld in Briefumschläge steckte. Ich war eine Person. Jemand mit einer Geschichte.
Also stand ich auf.
Ich sang nicht „Über den Wolken“. Das war für die Karaoke-Bar.
Ich sang „Griechischer Wein“.
Und beim Refrain, da passierte es. Erst sang Jannis mit, leise und brummend. Dann Mira, laut und schief. Dann Leon. Und schließlich, zögerlich erst, dann aber kräftig, fielen Richard und Karin mit ein.
Wir saßen in dieser kleinen, abgewohnten Küche, drei Generationen, Fremde, Familie, Freunde, und brüllten den Text eines Liedes über Heimweh und Fremdsein, während wir uns so zuhause fühlten wie nie zuvor.
Ich bin Franz. Ich bin 75 Jahre alt.
Meine Knie tun weh, wenn es regnet. Ich vergesse manchmal, wo ich meine Brille hingelegt habe.
Aber ich bin nicht einsam.
Ich habe gelernt, dass Familie nicht nur die Leute sind, die dein Blut teilen. Familie sind die Leute, die dir Tee kochen, wenn du Fieber hast. Die dich bitten, einen Krawattenknoten zu binden. Die dich beim Namen nennen und nicht nach deinem Geburtsjahr beurteilen.
Morgen muss ich früh raus. Leon hat eine Prüfung und ich habe versprochen, Pfannkuchen zu machen. Blaubeerpfannkuchen. Die mag er am liebsten, wenn er nervös ist.
Das Leben ist zu kurz für Stille. Es ist zu kurz für leere Räume und Geschirr, das man für besondere Anlässe aufhebt.
Jeder Tag, an dem du aufwachst und jemanden hast, dem du „Guten Morgen“ sagen kannst, ist ein besonderer Anlass.
Ich trank mein Bier aus, schaute in die Runde der lachenden Gesichter und wusste: Ich bin genau da, wo ich hingehöre.
Mitten im Lärm. Mitten im Leben.






