Ich dachte, die Stille wäre mein Sieg.
Drei Tage lang genoss ich sie. Meine Wohnung in Nippes war aufgeräumt, keine Legosteine bohrten sich in meine Füße, und der einzige Lärm war das gelegentliche Rattern der Straßenbahn auf der Neusser Straße. Ich trank meinen Tee heiß, nicht lauwarm. Ich schlief mittags, ohne auf die Uhr zu schauen. Es war genau das, worum ich gebeten hatte. Es war der Frieden, für den ich gekämpft hatte.
Aber das Leben, so scheint es, hat einen seltsamen Sinn für Humor – oder vielleicht will es uns einfach nur prüfen, ob wir unsere Lektionen wirklich gelernt haben.
Es war Donnerstagnacht, kurz nach elf. Ich lag bereits im Bett, ein Buch auf den Knien, als das Telefon im Flur schrillte. Nicht das sanfte Klingeln meines Handys, sondern das scharfe, mechanische Läuten des alten Festnetztelefons. Um diese Uhrzeit bedeutet ein Anruf nie etwas Gutes.
Mein Herz begann sofort schneller zu schlagen – dieser unangenehme, stolpernde Rhythmus, vor dem mein Arzt mich gewarnt hatte. Ich tastete mich durch den dunklen Flur.
„Müller?“, meldete ich mich, meine Stimme belegt.
„Frau Müller, hier ist Herr Weidner von der Camp-Leitung in der Eifel. Es tut mir leid, dass ich so spät störe.“
In meinem Kopf explodierten die Szenarien. Unfall. Krankenhaus. Polizei. Ich musste mich an der kleinen Kommode abstützen.
„Was ist passiert?“, flüsterte ich.
„Es ist nichts Lebensbedrohliches, bitte beruhigen Sie sich“, sagte er schnell, als hätte er mein Keuchen gehört. „Aber es geht um Ben. Der Kleine hat hohes Fieber bekommen. Wahrscheinlich ein viraler Infekt, es geht hier gerade um. Aber er… er ist untröstlich. Er weint seit zwei Stunden ununterbrochen und ruft nach Ihnen.“
„Nach mir?“, fragte ich verwirrt. „Nicht nach seinen Eltern?“
„Wir haben versucht, Ihre Kinder zu erreichen. Aber Andreas und Nathalie haben bei der Anmeldung angegeben, dass sie eine Wandertour machen. Ihre Handys sind aus. Wahrscheinlich haben sie keinen Empfang. Sie sind als Notfallkontakt eingetragen, Frau Müller.“
Da war sie wieder. Die Verantwortung. Sie stand plötzlich wieder im Raum, groß und dunkel, und starrte mich an.
„Er hat fast 40 Grad Fieber“, fuhr Herr Weidner fort. „Wir haben ihm Wadenwickel gemacht und Fiebersaft gegeben, aber er steigert sich in eine Hysterie hinein. Er schreit, dass er nach Hause will. Zu Oma. Wir können ihn hier im Gruppenschlafsaal nicht beruhigen, er weckt alle anderen Kinder auf. Jemand muss ihn holen.“
Ich schloss die Augen. Die Eifel war eineinhalb Stunden entfernt. Es war fast Mitternacht. Ich fahre nachts kein Auto mehr – meine Augen sind zu schlecht, die Lichter des Gegenverkehrs blenden mich so sehr, dass ich Panik bekomme. Und selbst wenn: Ich konnte Ben nicht tragen.
„Ich… ich habe kein Auto“, log ich halb. Mein kleiner Polo stand vor der Tür, aber ich traute mir die Fahrt nicht zu. Nicht mit diesem Schwindel, der schon wieder hinter meiner Stirn pochte.
„Wir haben einen Zivildienstleistenden, der ihn bringen könnte“, bot Herr Weidner an. „Aber Sie müssten ihn in Empfang nehmen. Trauen Sie sich das zu? Nur für heute Nacht? Bis wir die Eltern erreichen?“
Mein „Nein“ von vor drei Tagen hallte in meinem Kopf wider. Ich schaffe das physisch nicht.
Aber das hier war anders. Das war kein Urlaubswunsch. Das war mein kleiner Enkel, vier Jahre alt, krank, verängstigt und allein unter Fremden. Mein Prinzip, meine Grenzen zu schützen, war wichtig – aber es war nicht wichtiger als das Wohl des Kindes im Notfall.
„Bringen Sie ihn her“, sagte ich fest. „Ich warte.“
Die nächsten zwei Stunden vergingen wie in Zeitlupe. Ich kochte Fencheltee. Ich suchte das alte Fieberthermometer. Ich legte frische Bettwäsche auf das Sofa im Wohnzimmer, weil ich wusste, dass ich ihn nicht in das hohe Gästebett heben konnte.
Gegen halb zwei klingelte es. Ich drückte den Summer und hörte schwere Schritte im Treppenhaus. Mein Herz klopfte bis zum Hals.
Als die Tür aufging, sah ich einen jungen Mann, der einen in Decken gewickelten Bündel auf dem Arm trug. Aus dem Bündel ragte ein kleiner, roter Kopf mit verquollenen Augen hervor.
„Oma!“, schluchzte es leise. Es war ein klägliches, heiseres Geräusch, das mir das Herz brach.
„Danke“, sagte ich zu dem jungen Mann und griff in meine Geldbörse, um ihm einen Schein zuzustecken. „Für die Fahrt.“ Er wollte ablehnen, aber ich bestand darauf. Dann waren wir allein.
Der junge Mann hatte Ben auf das Sofa gelegt. Jetzt stand ich da. Mitten in der Nacht. Mit einem kranken Kind.
„Oma, mir ist kalt“, wimmerte Ben. Seine Zähne klapperten, obwohl er glühte.
Ich wollte ihn hochheben, ihn wiegen, so wie ich es früher getan hatte. Ich beugte mich zu ihm runter. Doch als ich ihn anheben wollte, schoss ein stechender Schmerz durch meinen unteren Rücken, so heftig, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich musste mich am Sofatisch festhalten, um nicht auf ihn zu fallen.
Da war sie, die harte Realität, die Andreas nicht wahrhaben wollte und die ich selbst so hasste. Ich konnte ihn nicht trösten, wie eine Oma trösten sollte. Ich konnte ihn nicht auf den Arm nehmen und durch die Wohnung tragen.
Tränen der Frustration stiegen mir in die Augen. Ich bin nutzlos, dachte ich bitter. Er braucht Wärme und ich kann ihm nicht mal das geben.
Aber dann atmete ich tief durch. Denk nach, Hildegard, sagte ich mir. Du kannst nicht stark sein. Also sei schlau.
Ich setzte mich nicht zu ihm auf das tiefe Sofa, von dem ich vielleicht nicht mehr hochgekommen wäre. Stattdessen holte ich meinen Sessel heran. Ich setzte mich ganz nah an sein Kopfende.
„Ben, mein Schatz“, flüsterte ich und strich ihm mit meiner zittrigen Hand über die feuchte Stirn. „Oma kann dich nicht hochheben. Mein Rücken ist kaputt. Aber ich bin hier. Ich gehe nicht weg.“
Er blinzelte mich an, seine Augen glänzten fiebrig. „Tut dir das Aua weh?“
Die Frage traf mich unvorbereitet. Er, der selbst krank war, sorgte sich um mich.
„Ein bisschen“, gab ich zu. „Wir sind heute beide ein bisschen kaputt, oder?“
Er nickte matt. „Wie mein Spielzeugauto, wo das Rad ab ist.“
„Genau. Wie das Auto.“
Ich verbrachte die Nacht nicht schlafend. Ich saß in meinem Sessel, hielt seine kleine, heiße Hand und erzählte ihm Geschichten. Ich erzählte nicht von Drachen oder Rittern. Ich erzählte ihm von früher. Davon, wie sein Papa als kleiner Junge auch mal Fieber hatte und nur Vanillepudding essen wollte.
Ich wechselte seine kühlen Lappen auf der Stirn. Ich half ihm, den Teebecher zu halten, damit er trinken konnte, ohne sich aufzusetzen. Ich tat all die kleinen Dinge, die keine Kraft, aber viel Geduld erforderten.
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