Warum wir Omas Grenzen setzen müssen, um zu überleben

Gegen vier Uhr morgens sank sein Fieber endlich. Sein Atem wurde ruhiger, tiefer. Er schlief ein.

Ich hingegen war hellwach. Mein Rücken schmerzte vom Sitzen, meine Knie waren steif. Ich fühlte mich um zehn Jahre gealtert in dieser einen Nacht. Aber als ich auf den schlafenden Jungen blickte, spürte ich nicht die Überforderung, vor der ich solche Angst gehabt hatte.

Ich spürte Stolz.

Ich hatte es geschafft. Nicht, indem ich so tat, als wäre ich zwanzig Jahre jünger. Sondern indem ich akzeptierte, was ich leisten konnte – und was nicht. Ich hatte meine Grenzen nicht überschritten, ich hatte innerhalb meiner Grenzen einen Weg gefunden.

Der Morgen graute bereits, grau und verregnet über den Dächern von Köln, als mein Handy summte. Es war Andreas.

„Mama?“, seine Stimme klang panisch. „Ich habe gerade erst Netz bekommen. Ich habe zehn Anrufe vom Camp. Was ist los? Wo ist Ben?“

„Er ist hier“, sagte ich ruhig. Meine Stimme war kratzig vor Müdigkeit. „Er schläft auf meinem Sofa.“

„Bei dir? Aber… du hast doch gesagt…“ Er stockte. „Geht es ihm gut? Geht es dir gut?“

„Das Fieber ist runter“, sagte ich. „Und ich lebe noch. Aber Andreas, ihr müsst kommen. Nicht nächste Woche. Heute.“

„Wir sitzen schon im Auto“, rief er. „Wir sind in drei Stunden da. Mama… danke.“

Als Andreas und Nathalie drei Stunden später völlig übermüdet und noch in Wanderkleidung in meiner Tür standen, sah die Wohnung nicht aus wie nach einem Bombeneinschlag. Es war still.

Ben saß auf dem Wohnzimmerteppich und malte ruhig. Ich saß wieder in meinem Sessel, eine Tasse Kaffee in der Hand, die ich mit beiden Händen umschloss, damit sie nicht schwappte.

Nathalie stürzte zu Ben, drückte ihn an sich, prüfte seine Stirn. Andreas blieb im Türrahmen stehen und sah mich an. Er sah die Ringe unter meinen Augen. Er sah, wie schwerfällig ich mich aus dem Sessel erhob.

Aber er sah auch etwas anderes. Er sah keinen Groll.

„Du hast ihn geholt“, sagte er leise.

„Er wurde gebracht“, korrigierte ich. „Ich habe meine Grenzen nicht vergessen, Andreas. Ich habe nur… improvisiert.“

Nathalie stand auf und kam zu mir. Sie weinte nicht hysterisch wie am Telefon vor ein paar Tagen. Sie wirkte gefasst, aber unendlich erleichtert. Sie nahm mich vorsichtig in den Arm, als wäre ich aus Porzellan. Vielleicht war ich das mittlerweile auch ein bisschen.

„Ich weiß jetzt, was du meintest“, flüsterte sie in mein Ohr. „Als wir den Anruf sahen und wussten, wir sind zu weit weg… die Panik… und dann zu wissen, dass du da bist, obwohl du ‚Nein‘ gesagt hast.“

„Familie ist da, wenn es brennt“, sagte ich und löste mich sanft. „Aber Familie muss auch dafür sorgen, dass niemand verbrennt. Auch die Oma nicht.“

Wir setzten uns in die Küche. Andreas machte Kaffee – für uns alle. Zum ersten Mal seit Jahren bediente er mich in meiner eigenen Küche, ohne dass ich darum bitten musste. Es war eine kleine Geste, aber sie bedeutete die Welt.

„Wir müssen reden“, sagte Andreas, nachdem er sich gesetzt hatte. „Über die Zukunft. Wenn so etwas wieder passiert.“

„Ja“, stimmte ich zu. „Ich kann nicht der Standard-Plan sein. Ich kann nicht der Plan B sein. Ich bin der Notfall-Plan C. Für Nächte wie diese.“

„Wir werden jemanden suchen“, sagte Nathalie fest. „Einen Babysitter hier in Köln. Jemanden Junges, der Ben hinterherrennen kann. Und wir werden ein Netzwerk aufbauen, damit nicht alles an dir hängen bleibt.“

Ich nickte und spürte, wie eine tonnenschwere Last von meinen Schultern fiel, die ich jahrelang unbemerkt mit mir herumgetragen hatte: Die Angst, gebraucht zu werden, aber es nicht leisten zu können.

Als sie später gingen – Ben glücklich auf dem Rücksitz, mit dem Versprechen, dass er bald wieder gesund ist – stand ich wieder im Flur. Es war wieder still.

Aber es war eine andere Stille als vor drei Tagen. Es war keine trotzige Stille. Es war eine friedliche Stille.

Ich ging ins Bad und sah in den Spiegel. Ich sah die Falten, die grauen Haare, die müden Augen. Ich sah eine Frau von 63 Jahren, deren Körper nicht mehr so funktioniert wie früher.

Früher hätte ich mich dafür geschämt. Ich hätte es als Schwäche gesehen.

Aber heute? Heute sah ich eine Frau, die eine ganze Nacht lang Wache gehalten hatte, ohne zusammenzubrechen. Ich hatte nicht meine Kraft gegeben, denn die habe ich nicht mehr im Überfluss. Ich hatte meine Anwesenheit gegeben. Meine Liebe. Meine Ruhe.

Und ich habe gelernt, dass das manchmal mehr wert ist als alle körperliche Stärke der Welt.

Ich habe gelernt, dass ein „Nein“ zur richtigen Zeit das „Ja“ im Notfall umso wertvoller macht. Wenn man seine Batterien schützt, hat man noch genug Energie für das eine Licht, das leuchten muss, wenn alles andere dunkel wird.

Ich werde mich jetzt hinlegen. Ich werde zwei Tage brauchen, um mich von dieser einen Nacht zu erholen. Meine Knie tun weh, mein Rücken protestiert.

Aber das ist in Ordnung. Ich habe es mir verdient.

Und an alle da draußen, die denken, sie müssten immer funktionieren: Es ist okay, schwach zu sein. Eure Liebe wird nicht in Kilowattstunden gemessen, die ihr leistet. Sie wird daran gemessen, dass ihr da seid – auf eure eigene, mögliche Weise.

Sagt Nein, damit ihr Ja sagen könnt, wenn es wirklich zählt. Das ist kein Egoismus. Das ist Selbsterhaltung. Und am Ende ist es das größte Geschenk, das ihr eurer Familie machen könnt: Eine Oma, die vielleicht nicht mehr rennen kann, aber die noch lange, lange da ist, um Geschichten zu erzählen und Händchen zu halten.

Ich schließe jetzt die Augen. Der Regen peitscht immer noch gegen das Fenster. Aber für mich klingt es heute wie Applaus.

Scroll to Top