Der Mann, neben dem ich seit sechsundvierzig Jahren schlafe, stellte sich heute Morgen schützend vor das Sofa, klammerte sich an ein Kissen und sagte:
„Gehen Sie bitte. Meine Frau Annett kommt gleich nach Hause.“
Ich stand mitten im Wohnzimmer unseres Reihenhauses in der Nähe von Hannover, noch im Nachthemd, mit den Hausschuhen, die er mir vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
Er sah an mir vorbei, als wäre ich eine Fremde, die sich in sein Leben verirrt hatte.
„Bernd“, flüsterte ich, „ich bin’s. Deine Annett.“
Ein kurzer Schatten von Erkennen zog über sein Gesicht. Er suchte meine Augen, meine Falten, meine grauen Haare, als würde er in Erinnerungen blättern.
Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein“, sagte er leise. „Meine Annett ist jünger. Und sie trägt das blaue Kleid. Sie riecht nach Sommer.“
Er setzte sich ans Fenster, sah hinaus in den grauen Januar, der trüb und schwer wie ein nasses Handtuch über den Häusern hing.
In der Küche lag ein Brief, den ich gestern aus dem Briefkasten geholt hatte.
Der Umschlag war dick und trug das Logo unserer Krankenkasse.
Ich hätte ihn gestern öffnen sollen. Aber ein kleiner, feiger Teil in mir wollte nicht bestätigt bekommen, was ich längst wusste.
Jetzt, nachdem Bernd mich wieder hinausgeschoben hatte wie eine Besucherin, nahm ich den Umschlag mit beiden Händen, riss ihn auf und setzte mich.
„Sehr geehrte Frau Küster“, stand da. „Nach Prüfung aller Unterlagen müssen wir Ihnen mitteilen, dass eine Höherstufung des Pflegegrades derzeit nicht möglich ist. Ihr Ehemann kann sich weiterhin selbstständig in der häuslichen Umgebung bewegen und einfache Handlungen ausführen. Wir empfehlen Ihnen, zusätzliche private Unterstützung in Betracht zu ziehen.“
Private Unterstützung.
Worte wie kaltes Wasser im Nacken.
Das bedeutete: unser Erspartes, unsere kleinen Träume für später, die Nordsee-Reise, der Balkonumbau, ein paar ruhige Jahre nach all dem Schuften.
Ich legte das Schreiben auf den Tisch und hielt die Stuhllehne fest, damit mir nicht schwindlig wurde.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich Bernd murmeln. Er sprach mit jemandem, der schon lange nicht mehr hier war.
Früher war er derjenige, der alles trug.
Bernd war der Mann, der Waschmaschinen reparieren konnte, Fahrräder von Nachbarskindern, und manchmal sogar mich wenn das Leben mir zu schwer wurde.
Als seine Firma in den Neunzigern zumachte, stand er am nächsten Morgen trotzdem um fünf auf.
Er nahm Frühschichten im Lager, putzte nachts Büros, schraubte tagsüber Fahrräder zusammen.
„Solange ich zwei Hände habe, geht’s weiter“, sagte er und lächelte schief, mit diesem Lächeln, das mich immer beruhigt hatte.
Wir haben Krisen überstanden, die viele Ehen zerstört hätten.
Arbeitslosigkeit. Schulden. Jahre, in denen wir jede Ausgabe abwägen mussten.
Bernd war kein Mann großer Worte, aber er war da. Immer.
Dann kamen die kleinen Lücken.
Er verlegte den Schlüssel im Brotkasten.
Saß einmal im Auto und konnte sich nicht mehr erinnern, wie man losfährt.
Der Neurologe sprach von „vaskulärer Demenz“. Ich hörte nur: Wir verlieren ihn. Stück für Stück.
Seitdem stelle ich mir den Wecker auf drei Uhr morgens, weil Bernd manchmal glaubt, er müsse zur Frühschicht.
Ich habe die Autoschlüssel versteckt. Die Herdsicherungen eingebaut. Die Medikamente farblich sortiert.
Unser Sohn Tobias kommt so oft er kann, aus einer Stadt, die zwei Stunden entfernt liegt.
Neulich stand er mit Kuchen im Arm im Wohnzimmer.
„Hallo Papa“, sagte er sanft.
Bernd musterte ihn lange.
Dann: „Sind Sie vom Kabelservice? Der Fernseher macht manchmal Mucken.“
Tobias’ Gesicht brach auf eine Weise, die ich nie vergessen werde.
Er lächelte tapfer. „Nein, Papa. Ich bin Tobias.“
Bernd nickte verwirrt. „Ach so. Natürlich.“
An diesem Abend saß unser erwachsener Sohn in meiner Küche und weinte in seine Hände.
„Mama“, sagte er brüchig, „er weiß nicht mehr, wer ich bin.“
Ich legte meine Hand in seinen Nacken.
Es war das Einzige, was ich tun konnte.
Das Schlimmste an dieser Krankheit ist nicht das Vergessen.
Es ist das langsame Verschwinden.
Du verlierst einen Menschen nicht an einem Tag – sondern jeden Tag ein bisschen mehr.
Und dann kam unser fünfundvierzigster Hochzeitstag.
Ich rechnete mit nichts.
Ich stellte zwei Kerzen in einen kleinen Kuchen und schrieb „45“ auf einen Zettel, den ich daneben legte.
Ein stiller Versuch, einen Moment festzuhalten.
Bernd saß wie immer am Fenster.
Als ich ihm den Kuchen hinstellte, sah er irritiert auf.
„Geburtstag?“
„Nein. Hochzeitstag.“
Etwas in seinen Augen klärte sich.
Wie eine Nebelwand, die sich kurz teilt.
„Annett“, sagte er. Und diesmal klang mein Name wie früher.
Er stand auf, langsam aber entschlossen, ging ins Schlafzimmer und kramte in seiner Sockenschublade.
Als er zurückkam, hielt er einen alten Umschlag in der Hand.
„Der… der ist für dich“, murmelte er.
Meine Finger zitterten, als ich ihn öffnete.
Ein kleiner silberner Anhänger.
Ein gefalteter Zettel.
Seine Schrift, brüchig und schief:
„Für jeden Tag, an dem du geblieben bist, obwohl du hättest gehen können.“
Ich sah zu ihm auf.
„Wann hast du das geschrieben?“
Er lächelte matt.
„Als der Arzt damals… weißt du… Ich wollte sicher sein, dass du es bekommst, solange ich noch…“
Die Worte entglitten ihm.
Für diesen einen Moment war er wieder mein Bernd.
Der Mann, der mit mir im Regen stand, als wir jung waren und nichts hatten außer einander.
Dann löste sich der Blick wieder.
Er wandte sich von mir ab.
„Entschuldigen Sie“, sagte er förmlich. „Wissen Sie, wann meine Frau nach Hause kommt?“
Etwas in mir brach.
Ich sank auf den Stuhl und hielt den Anhänger fest wie einen Rettungsring.
Jetzt sitze ich im Auto vor unserem Haus.
Bernd schläft. Ich habe ihm erklärt, wer ich bin, ohne zu erwarten, dass es bleibt.
Im Rückspiegel sehe ich mein Gesicht — gezeichnet von Formularen, Pflege, Nächten ohne Schlaf.
Manchmal will ich einfach losfahren.
Nur für eine Stunde.
Einmal atmen.
Aber dann denke ich an den Zettel in meiner Handtasche.
„Für jeden Tag, an dem du geblieben bist, obwohl du hättest gehen können.“
Liebe ist nicht das, was leicht ist.
Liebe ist das Bleiben. Das Tragen.
Das Aushalten, wenn es niemand sieht.
Und falls du das liest und selbst jemanden pflegst, möchte ich dir sagen:
Du bist nicht allein.
Und was du tust, ist stille, unsichtbare, heilige Arbeit.
Die Art von Liebe, die die Welt zusammenhält.
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