An dem Morgen, an dem mein eigener Mann mich aus unserem Wohnzimmer schickte wie eine Fremde, hätte ich fast getan, wovon ich seit Monaten nur in den schlimmsten Nächten träumte: einfach losfahren und nicht umdrehen.
Aber dies ist nicht die Geschichte vom Weglaufen. Es ist die zweite Hälfte einer Liebe, die bleibt, selbst wenn einer von beiden schon halb verschwunden ist.
Ich saß noch im Auto, der Motor längst aus, der Haustürschlüssel kalt in meiner Handtasche.
Auf dem Beifahrersitz lag der Anhänger, der Zettel, die Lesebrille, die ich vorhin hastig eingesteckt hatte.
Ein stilles, kleines Stillleben eines Lebens, das mir zu groß geworden war.
Ich dachte an den Brief der Krankenkasse, der auf unserem Küchentisch lag.
An die Worte „private Unterstützung“.
So, als könnte man Menschen wie Bernd in Stundenpakete einteilen, die sich buchen und wieder abbestellen lassen.
Mein Handy vibrierte.
Tobias.
„Alles okay bei euch?“, stand da.
Ich starrte auf die Nachricht, als wäre sie in einer fremden Sprache geschrieben.
Ich schrieb: „Ja, alles gut. Papa schläft gerade.“
Meine Finger zitterten, als ich auf „Senden“ drückte.
Es war nicht gelogen.
Nur nicht die ganze Wahrheit.
Schließlich stieg ich aus, schloss das Auto ab und ging zurück ins Haus.
Der Flur roch nach dem Wachsreiniger, den Bernd früher immer so mochte. „Riecht nach frisch“, hatte er gesagt. „Nach geschafft.“
Im Wohnzimmer saß er im Sessel und schlief tatsächlich.
Der Kopf leicht nach vorne gesunken, die Hände gefaltet, als hätte ihn jemand mitten in einem Gebet angehalten.
Auf seinem Schoß lag das Kissen, das er vorhin wie einen Schutzschild gehalten hatte.
Ich stand in der Tür und betrachtete ihn lange.
Den Mann, der mich nicht mehr erkannte.
Den Mann, für den ich trotzdem jeden Morgen aufstand.
In mir stritten zwei Stimmen.
Die eine zischte: „Du kannst so nicht weitermachen. Er wird immer schlechter. Du wirst älter. Du wirst krank, bevor er es zu Ende ist.“
Die andere flüsterte: „Noch ein bisschen. Noch einen Tag. Noch eine Nacht. Er würde für dich bleiben.“
Am nächsten Tag rief ich im Pflegestützpunkt der Stadt an.
Die Nummer hatte mir eine Nachbarin gegeben, deren Mutter auch „so langsam verschwand“, wie sie gesagt hatte.
Ich hatte den Zettel wochenlang an den Kühlschrank geheftet und nie angerufen.
„Guten Tag, mein Name ist Küster“, hörte ich mich sagen. „Mein Mann hat vaskuläre Demenz. Ich… ich glaube, ich brauche Hilfe.“
Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte eine ruhige Stimme.
Sie stellte Fragen, viele Fragen.
Wie oft er orientierungslos sei.
Ob er sich wasche. Esse. Trinke.
Ob ich noch arbeite. Ob wir Unterstützung hätten.
„Unser Sohn“, sagte ich. „Aber er wohnt zwei Stunden entfernt.“
Ich hörte, wie meine Stimme dabei kleiner wurde.
„Sie müssen das nicht allein schaffen, Frau Küster“, sagte sie. „Dafür gibt es Angebote. Entlastung. Beratung. Vielleicht auch eine erneute Begutachtung.“
Begutachtung.
Das Wort schmeckte nach Krankenhauslicht und kalten Fluren.
Wochen später saß eine fremde Frau mit Klemmbrett in unserem Wohnzimmer.
Bernd trug sein kariertes Hemd, das er früher immer zu Familienfeiern angezogen hatte.
Ich hatte gehofft, es würde etwas in ihm wecken.
„Herr Küster“, sagte die Gutachterin freundlich. „Wissen Sie, welcher Tag heute ist?“
Bernd sah sie lange an.
Dann drehte er den Kopf zu mir.
„Annett“, flüsterte er. „Ist heute unser Hochzeitstag?“
Es war Mitte März.
„Nein, Bernd“, sagte ich sanft. „Heute kommt nur Besuch.“
Er runzelte die Stirn.
„Ach so“, murmelte er. „Ich dachte… na ja. Man verliert ja den Überblick.“
Die Gutachterin machte ein Kreuz auf ihrem Formular.
Ich beobachtete, wie ihr Stift sich bewegte, als ginge es nicht um uns, sondern um irgendeinen Fall aus einem Lehrbuch.
Später, als sie Bernd bat, ein paar Schritte durch die Wohnung zu gehen, stapfte er tapfer los.
Er klammerte sich kurz an die Stuhllehne, fing sich, ging weiter.
„Sehen Sie?“, sagte er stolz. „Ich kann noch. Meine Frau soll nicht alles allein machen.“
Ich wusste, dass dieser Satz gegen uns arbeiten würde.
Und ich liebte ihn dafür, dass er ihn sagte.
Nach dem Termin setzte ich Bernd in den Sessel und ging in die Küche, weil meine Knie weich wurden.
Ich stützte mich auf der Arbeitsplatte ab und wartete, bis mein Herz langsamer schlug.
Abends rief Tobias an.
Ich erzählte vom Besuch, ließ vieles weg.
„Mama, vielleicht wäre ein Heim irgendwann doch…“, begann er vorsichtig.
„Nein“, sagte ich schneller, als ich dachte. „Noch nicht.“
Es entstand eine Stille, in der nur unsere beiden Atmungen durchs Telefon rauschten.
„Ich habe Angst um dich“, sagte er schließlich.
Ich schluckte.
So viele Jahre hatte ich Angst um Bernd gehabt.
Um seine Stellenabbauungen, seine Nachtschichten, seine kaputten Knie.
Jetzt hatte unser Sohn Angst um mich.
Einmal, an einem stürmischen Aprilabend, verlor ich die Geduld.
Es war einer dieser Tage, an denen Bernd achtmal dieselbe Frage stellte.
„Wann kommt Annett nach Hause?“, fragte er. „Wissen Sie das?“
Ich erklärte es ihm, zum ersten, zweiten, dritten Mal.
Beim achten Mal knallte ich die Schublade zu.
„Ich bin es!“, rief ich lauter als gewollt. „Ich bin Annett! Ich stehe direkt vor dir!“
Bernd zuckte zusammen.
Sein Blick wurde glasig, und plötzlich sah ich nicht mehr den Mann vor mir, der mich vergessen hatte, sondern einen verängstigten Jungen, der beschämt auf seine Hände starrte.
„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich wollte Sie nicht ärgern.“
Etwas in mir zerbrach zum zweiten Mal.
Ich ging ins Bad, schloss die Tür, drehte den Wasserhahn auf und ließ mich gegen die Fliesen sinken.
Das Rauschen des Wassers war die einzige Kulisse, vor der ich wagte zu schluchzen.
In dieser Nacht schrieb ich eine Liste.
Nicht für Bernd.
Für mich.
Oben stand: „Was ich nicht mehr allein schaffe.“
Darunter: „Nächte.“
„Arzttermine.“
„Papierkram.“
„Mich selbst daran erinnern, dass ich auch noch ein Mensch bin.“
Am nächsten Tag zeigte ich die Liste einer Frau aus der Nachbarschaft, die immer freundlich grüßte, aber nie lange stehen blieb.
Sie hieß Karin, war ein paar Jahre jünger als ich und hatte ihre Mutter in einem Pflegeheim begleitet.
„Warum haben Sie nichts gesagt?“, fragte sie, nachdem sie die Liste gelesen hatte. Ihre Stimme war weich, aber fest.
Ich zuckte die Schultern. „Man will ja niemandem zur Last fallen.“
Sie legte mir die Hand auf den Arm.
„Sie sind keine Last, Annett. Sie sind jemand, der Hilfe verdient.“
Später brachte sie mir einen Flyer von einer Angehörigengruppe im Gemeindezentrum.
„Gehen Sie da mal hin“, sagte sie. „Nur zum Zuhören. Mehr nicht.“
Ich ging.
Der Raum roch nach Filterkaffee und Bodenreiniger.
Stuhlkreis, Thermoskannen, Teller mit Keksen, die schon ein bisschen weich waren.
Menschen mit Augenringen, die ich sofort erkannte, obwohl ich sie noch nie gesehen hatte.
Eine Frau erzählte, wie ihr Mann sie nachts für eine Einbrecherin hielt.
Ein Mann berichtete von seiner Mutter, die jeden Tag aufs Neue ihre eigene Wohnung suchte.
Jemand lachte an einer Stelle, an der man früher nie gelacht hätte. Dieses seltsame, müde Lachen von Menschen, für die die normalen Maßstäbe nicht mehr gelten.
Als ich an der Reihe war, sagte ich zuerst nichts.
Dann erzählte ich doch.
Vom Kissen vor dem Sofa.
Vom Brief der Krankenkasse.
Vom Anhänger in meiner Handtasche.
Von dem Satz: „Für jeden Tag, an dem du geblieben bist, obwohl du hättest gehen können.“
Weiter zu 🐾 Teil 3 ⏬⏬






