Was Liebe wirklich bedeutet, wenn Demenz einen Menschen langsam aus dem Leben trägt

Am Ende wischte ich mir verstohlen die Augen.

Da beugte sich die Leiterin der Gruppe vor.

„Wissen Sie, was das Wichtigste ist, Frau Küster?“, fragte sie.

„Dass Sie bleiben wollen, aber nicht auf Kosten Ihrer eigenen Gesundheit. Liebe ist nicht nur das Bleiben. Liebe ist auch das Grenzenziehen.“

In der Nacht danach stellte ich mir zum ersten Mal seit Jahren keinen Wecker für drei Uhr.

Stattdessen hatte ich mit Tobias und der Pflegestützpunkt-Frau eine Lösung gefunden.

Zweimal die Woche würde ein Pflegedienst kommen.

Einmal im Monat würde Bernd einen Tag in der Tagespflege verbringen.

Und Tobias versprach, sich um den Papierkram zu kümmern.

Am ersten Morgen, an dem die Pflegekraft kam, wollte ich zuerst gar nicht gehen.

Ich lief durchs Haus, erklärte ihr, wo die Tassen stehen, wie Bernd seinen Kaffee mochte, welche Medikamente er wann brauchte.

Sie lächelte geduldig.

„Das kriegen wir hin“, sagte sie. „Gehen Sie ruhig.“

Ich stand im Flur, den Schlüssel in der Hand, wie am Rand eines Sprungbretts.

„Und was soll ich machen?“, fragte ich hilflos.

„Atmen“, sagte sie. „Einmal tief durchatmen. Vielleicht ein Stück spazieren gehen. Oder sich irgendwo hinsetzen, wo niemand Ihren Namen ruft.“

Also ging ich.

Ich setzte mich auf eine Bank im kleinen Park drei Straßen weiter.

Es war derselbe Park, in dem wir früher mit Tobias Fußball gespielt hatten, in dem wir uns gestritten, versöhnt, Pläne geschmiedet hatten.

Ich saß da, hörte das entfernte Rauschen einer Straße, das Zwitschern eines paar verirrter Spatzen und zum ersten Mal seit langer Zeit mein eigenes Herz.

Es klang schwach, aber noch da.

Ich holte den Anhänger aus der Tasche.

Drehte ihn zwischen den Fingern.

Las in Gedanken den Satz noch einmal.

„Für jeden Tag, an dem du geblieben bist, obwohl du hättest gehen können.“

Heute fügte ich in meinem Kopf etwas hinzu.

„Und für den Tag, an dem du einmal kurz gehst, damit du weiter bleiben kannst.“

Wenn du das liest und selbst jemanden pflegst, dann möchte ich dir noch etwas sagen.

Es ist keine Schwäche, dir Hilfe zu holen.

Es macht deine Liebe nicht kleiner, wenn du sie mit anderen teilst.

Du versagst nicht, wenn du müde wirst.

Du bist Mensch.

Du darfst weinen, du darfst lachen, du darfst eine Stunde auf einer Parkbank sitzen, während jemand anders auf den Menschen aufpasst, den du liebst.

Die Krankheit nimmt viel.

Aber sie soll nicht auch noch dich ganz nehmen.

Die Welt sieht deine Arbeit vielleicht nicht.

Kein Orden, kein Applaus, keine große Bühne.

Aber irgendwo, in einer Sockenschublade, in einem alten Umschlag, in einem schiefen Satz auf einem zerknickten Papier, ist deine Liebe aufgeschrieben.

Und selbst wenn der Mensch, für den du kämpfst, deinen Namen vergisst – das, was du jeden Tag tust, bleibt.

Manchmal nicht im Gedächtnis.

Aber im Gewebe der Welt.

Dort, wo die leisen Hände sind, die alles zusammenhalten.

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