Ich heiße Mareike, bin 34 und arbeite als Sanitäterin im Sanitätsdienst der Streitkräfte. Nach neun zermürbenden Monaten im Auslandseinsatz wollte ich nur eins: meine vierzehnjährige Tochter Juna endlich wieder in die Arme schließen.
Während ich weg war, hatte ich jeden Monat 2.000 Euro an meine Eltern überwiesen. Sie sollten sich um Juna kümmern, solange ich nicht da bin. Essen, Kleidung, Schule, Fahrkarten, Vereinsbeiträge – alles, was ein Teenager eben braucht. Ich hatte das Geld bewusst großzügig angesetzt, weil ich nicht wollte, dass Juna wegen meiner Abwesenheit auf irgendetwas verzichten muss.
Am Abend meiner Rückkehr, zwischen Umarmungen und „Du bist wirklich da“-Tränen, fragte ich ganz nebenbei:
„War das Geld eigentlich genug?“
Juna sah mich an, als hätte ich etwas völlig Absurdes gesagt. Dann runzelte sie die Stirn und fragte:
„Welches Geld?“
In der Tür stand meine Mutter. Ihr Gesicht wurde schlagartig blass. Mein Vater starrte auf den Boden, als wäre dort ein Fleck, den nur er sehen konnte. Und meine Schwester Kerstin, die gerade mit einem Wäschekorb vorbeiging, wechselte so schnell das Thema, dass es fast wehtat.
„Wer hat Lust auf heiße Schokolade?“, sagte sie zu laut. „Mit diesen Pfefferminz-Marshmallows, die Juna so mag.“
Mir rutschte das Herz in den Bauch. In meinem Kopf begann etwas zu rechnen, obwohl ich noch nicht verstand, was es da überhaupt zu rechnen gab.
Ich hatte nie geplant, alleinerziehend zu sein und erst recht nicht in einem Beruf, der einen manchmal monatelang wegschickt. Aber Pläne halten sich nicht an das Leben.
Vor fünf Jahren ist mein Mann Nils bei einem Unfall gestorben. Ein ganz normaler Abend, ein kurzer Weg, ein Anruf, der alles zerreißt. Juna war damals neun. Sie hat lange mit einem Kissen in der Hand geschlafen, weil sie meinte, es riecht noch nach ihm. Ich musste funktionieren, weil sie mich brauchte.
Der Sanitätsdienst war für mich immer so ein „Falls es gar nicht anders geht“-Gedanke gewesen. Mein Vater hatte früher selbst gedient, und auch wenn unser Verhältnis nie leicht war, hatte ich Respekt vor dem, was er damals getragen hat. Nach Nils’ Tod war plötzlich Stabilität wichtiger als Stolz: geregeltes Einkommen, medizinische Versorgung, eine Struktur, die mich auffängt, wenn ich selbst zu wanken drohe.
Ich wurde Sanitäterin. Ich konnte helfen, und ich konnte arbeiten. Und in den ersten Jahren hatte ich Glück: keine langen Einsätze, keine monatelangen Trennungen. Meine Vorgesetzten wussten, dass ich allein mit Kind war, und hielten mich so lange wie möglich im Inland.
Juna und ich fanden einen Rhythmus. Eine kleine Wohnung in der Nähe meines Arbeitsplatzes, ein Schulweg, den sie irgendwann blind laufen konnte, Wochenenden mit Filmen und Spaziergängen, manchmal einfach nur Pfannkuchen am Sonntag und das Gefühl, dass wir wieder atmen.
Dann kam die Nachricht, vor der ich mich insgeheim immer gefürchtet hatte.
Neun Monate Auslandseinsatz. Ich war eingeplant. Ich weiß noch, wie ich das Schreiben in der Hand hielt und mich plötzlich ganz leer fühlte. Juna war dreizehn, mitten in dieser empfindlichen Phase, in der ein falsches Wort wie ein Stich sitzt und in der man als Mutter trotzdem gebraucht wird, auch wenn das Kind es nie zugibt.
Meine Eltern wohnen in meiner Heimatstadt, knapp zwei Stunden entfernt. Sie sind früh in Rente gegangen, nachdem mein Vater sein Handwerksgeschäft abgegeben hatte. Sie hatten Juna immer gern – aber eher auf Abstand: Feiertage, Geburtstage, mal ein Wochenende. Meine Mutter liebt sie, aber sie ist schnell erschöpft. Mein Vater ist mit Juna sanft, auf eine Art, die er bei mir früher nie war.
Meine Schwester Kerstin lebt ebenfalls in der Nähe, verheiratet, kinderlos. Wir waren nie richtig eng. Kerstin hat oft das Gefühl gehabt, unsere Eltern würden mich bevorzugen – obwohl ich ehrlich gesagt eher das Gegenteil empfunden habe: Ich war die, die sich anstrengte, damit es keinen Streit gibt.
Trotzdem: Ich hatte kaum Alternativen. Ich bat meine Eltern, Juna während des Einsatzes zu nehmen.
Sie sagten sofort ja. „Natürlich“, sagte meine Mutter. „Das ist doch unser Enkelkind.“
Wir besprachen alles: Schule, Freunde, Fußball, was sie isst und was nicht, wie sie abends zur Ruhe kommt, welche Sorgen sie nach dem Tod von Nils manchmal wieder einholen. Und dann sprachen wir über Geld.
„Ich überweise euch monatlich zweitausend Euro“, sagte ich. „Das ist für Juna. Für alles, was sie braucht. Und wenn was übrig bleibt: legt es für sie zurück.“
Meine Mutter winkte ab. „Das ist viel zu viel.“
„Nein“, sagte ich. „Das ist genau richtig. Ich will nicht, dass sie sich schlecht fühlt, weil ich weg bin.“
Ich richtete die Dauerüberweisung ein, zeigte ihnen die Bestätigung, das Datum, die Kontonummer. Sie nickten beide. Es war klar. Dachte ich.
Die Woche vor dem Abflug war ein einziges Rennen. Wir packten Junas Sachen, schrieben Listen, klebten Zettel an Kartons, richteten ihr Zimmer bei meinen Eltern ein. Ich kaufte ihr ein kleines Notizbuch, in das sie schreiben sollte, wenn wir nicht telefonieren können. Wir legten feste Zeiten fest, wegen Zeitverschiebung und weil Gespräche dort draußen nicht immer möglich sind.
Am Abend vor meiner Abreise kroch Juna zu mir ins Bett, so wie damals, als Nils gestorben war. Sie flüsterte: „Kommst du wirklich wieder?“
Ich sagte, ich gebe alles dafür. Ich sagte, neun Monate gehen schneller vorbei, als es sich anfühlt. Ich log ein bisschen – nicht aus Bosheit, sondern aus Liebe.
Am nächsten Morgen stand sie mit meinem Vater vor dem Haus. Sie wollte tapfer sein, aber als ich in das Taxi stieg, brach sie. Sie rannte hinterher, weinte, schrie meinen Namen. Mein Vater hielt sie fest, und ich sah durch die Heckscheibe ihre Hände, die in der Luft griffen, als könnte sie mich zurückziehen.
Dieses Bild klebte an mir, durch jede Nacht, durch jeden staubigen Tag.
Der Einsatz war hart. Nicht nur körperlich. Menschen kommen nicht zu uns, weil sie leichte Tage haben. Ich sah Dinge, die man nicht einfach abschüttelt. Ich lernte, dass Vertrauen dort draußen manchmal der einzige Halt ist – und dass Misstrauen dich gleichzeitig am Leben halten kann.
Als ich endlich nach Hause durfte, konnte ich drei Tage vor Weihnachten zurück. Ich sagte niemandem das genaue Datum. Ich wollte Juna überraschen. Und ich wollte vermeiden, dass sie wieder enttäuscht wird, falls etwas schiefgeht.
Am Flughafen holte mich Kerstin ab. Sie wirkte angespannt. Ich schob es auf den Weihnachtsstress. Auf der Fahrt redete sie über alles Mögliche – nur nicht über Juna. Einmal sagte sie: „Sie ist so groß geworden. Du wirst staunen.“ Dann schwieg sie wieder.
Als wir bei meinen Eltern ankamen, roch es nach Plätzchen und Braten, der Weihnachtsbaum war riesig, die Deko war… auffällig neu. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, weil Juna in der Küche stand, einen Spritzbeutel in der Hand, und als sie mich sah, ließ sie alles fallen.
Sie sprang mir um den Hals, so fest, dass wir beide fast umkippten. Ich hielt sie und spürte sofort: Sie war nicht mehr das Kind, das ich zurückgelassen hatte. Länger, kantiger im Gesicht, irgendwo zwischen Mädchen und fast Frau.
„Du bist wirklich da“, sagte sie immer wieder und strich mir übers Gesicht, als müsste sie prüfen, ob ich echt bin.
Meine Eltern standen daneben. Sie lächelten – aber es war ein Lächeln mit etwas Dahinter. Etwas, das nicht in den Raum passte.
Beim Abendessen saß Juna so nah bei mir, dass sie kaum essen konnte. Sie redete ununterbrochen: Schule, eine neue Freundin, Bücher, ein Mathetest. Ich bemerkte nebenbei, dass ihre Jeans zu kurz waren und ihr Pullover an den Ellbogen dünn. Ich dachte: Lieblingsklamotten. Passiert.
Dann sagte sie, sie hätte bei einem Projekt in Naturwissenschaften Probleme gehabt, weil die Materialien „zu teuer“ waren.
Meine Mutter redete sofort dazwischen. „Ach, am Ende hat das doch alles geklappt.“ Mein Vater wechselte das Thema und fragte nach dem Einsatz – sehr sachlich, sehr glatt.
Als ich später durchs Haus ging, sah ich Dinge, die vorher nicht da waren: ein neues Sofa, neue Stühle, ein großer Bildschirm im Arbeitszimmer meines Vaters. Draußen in der Einfahrt stand ein Geländewagen, den ich nicht kannte.
„Vaters neues Spielzeug“, sagte Kerstin, als wäre es ein Witz.
Juna hatte dagegen ein Handy mit gesprungenem Display. Ich fragte, warum sie es nicht ersetzt hat.
Sie zuckte mit den Schultern. „Geht doch noch.“
Sie erzählte, sie würde am Wochenende manchmal in einem Café aushelfen, „für ein bisschen Taschengeld“. Es klang harmlos. Aber in meinem Kopf knirschte etwas, weil ich wusste, dass ich zweitausend Euro im Monat geschickt hatte.
In der Nacht schlief Juna bei mir im Bett. Sie wollte mich nicht aus den Augen lassen. Als sie endlich eingeschlafen war, nahm ich mein Handy und öffnete meine Banking-App.
Neun Überweisungen. Jede pünktlich. Jede bestätigt. 18.000 Euro. An das Konto meiner Eltern.
Das Geld war angekommen.
Ich lag im dunklen Zimmer und hörte Junas gleichmäßigen Atem. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht hatten meine Eltern das Geld für sie zurückgelegt. Vielleicht wollten sie mich überraschen. Vielleicht war ich nach dem Einsatz einfach zu misstrauisch.
Dann sah ich wieder Junas kaputte Schuhe vor mir. Und den Satz über die „zu teuren“ Materialien.
Ich drehte mich zur Seite, starrte an die Decke und wusste plötzlich, dass ich nicht schlafen würde, bevor ich verstanden hatte, was hier wirklich passiert war.
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