Am Morgen danach war ich nach außen hin ruhig. Innen drin war ich eine gespannte Saite.
Ich machte das, was ich im Einsatz gelernt hatte: nicht raten, nicht fantasieren, nicht explodieren. Erst sammeln. Erst sichern. Dann handeln.
Juna wachte auf und wirkte, als hätte sie nachts auch kaum geschlafen. Sie war stiller als sonst, zu höflich, zu vorsichtig. Als würde sie versuchen, unsichtbar zu werden, damit niemand wieder sagt, sie sei „zu viel“.
Ich strich ihr über die Haare. „Heute machen wir nichts Dramatisches“, sagte ich. „Wir machen nur das, was gut für dich ist.“
Sie nickte, aber ich sah, dass sie an meinem Tonfall hing. Sie kannte mich. Sie wusste: Wenn ich so rede, plane ich etwas.
Beim Frühstück spielte meine Mutter die perfekte Gastgeberin. Sie stellte Brötchen hin, Marmelade, Tee. Sie fragte mich nach dem Schlaf, nach meinem Appetit, nach allem, nur nicht nach Juna.
Mein Vater saß wie immer am Rand des Tisches und rührte mechanisch in seinem Kaffee. Kerstin kam kurz vorbei, „nur schnell etwas abgeben“, und verschwand wieder, als hätte sie Angst, zu lange in meiner Nähe zu sein.
„Wir fahren später noch einkaufen“, sagte meine Mutter. „Damit Juna was Schönes hat.“
„Juna hat schon was Schönes“, sagte ich freundlich. „Mich.“
Meine Mutter lachte zu hell. Mein Vater hustete.
Ich entschied mich für Schritt eins: Schutz.
Nicht als Drama, nicht als Strafe. Als Absicherung.
„Juna und ich gehen nachher ein bisschen raus“, sagte ich. „Spazieren. Frische Luft.“
„Natürlich“, sagte meine Mutter sofort. Zu schnell. Zu bereit.
Draußen war es kalt, aber klar. Wir gingen in einen kleinen Park, nicht weit weg. Es war leer, weil es kurz vor den Feiertagen war und alle beschäftigt waren. Juna steckte die Hände in die Jackentaschen und ging dicht neben mir.
„Bist du wütend?“, fragte sie nach einer Weile.
Ich antwortete ehrlich: „Ja. Aber nicht auf dich.“
„Ich hab’s ja mitgemacht“, flüsterte sie. „Ich hab geglaubt, was sie gesagt haben.“
Ich blieb stehen, drehte mich zu ihr. „Juna. Du warst dreizehn. Du hast Erwachsenen vertraut. Das ist normal. Das ist richtig. Falsch war, dass man dieses Vertrauen ausgenutzt hat.“
Sie schluckte. „Was passiert jetzt?“
„Jetzt passiert zuerst eins: Du bekommst wieder Boden unter den Füßen.“ Ich deutete auf den gefrorenen Teich. „Nicht auf dünnem Eis laufen. Erst prüfen.“
Juna sah mich an, als hätte sie den Satz schon hundertmal gebraucht, ohne ihn je gesagt zu haben.
„Okay“, murmelte sie.
Wir setzten uns auf eine Bank. Ich holte ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche – nichts Besonderes, nur etwas, das ich gestern Abend schnell gefunden hatte.
„Ich möchte, dass wir zusammen aufschreiben, was du in den letzten Monaten gebraucht hast“, sagte ich. „Nicht, um dich auszufragen. Sondern damit du siehst: Du hast nicht übertrieben. Du hast nicht zu viel gewollt.“
Juna zögerte. Dann nickte sie langsam.
Wir schrieben auf: Winterstiefel, passende Hosen, Schulmaterial, Teilnahme am Ausflug, Zahnarzt, ein neues Display für das Handy. Und wir schrieben dazu, wie sie es gelöst hatte: Klebeband, verkaufen, verzichten, arbeiten.
Als wir fertig waren, war die Seite voll und Juna sah aus, als hätte sie gerade begriffen, wie viel sie getragen hatte.
„Das ist… viel“, flüsterte sie.
„Ja“, sagte ich. „Und das ist nicht normal für ein Kind.“
Auf dem Rückweg sagte ich: „Heute machen wir noch etwas. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben.“
„Was?“
„Wir holen deine Sachen zurück, soweit es geht.“
Juna wurde sofort rot. „Das geht doch nicht. Das kostet doch…“
„Stopp“, sagte ich ruhig. „Du musst nicht mehr automatisch ‚zu teuer‘ denken.“
Ich brachte Juna nach Hause, ließ sie aber nicht in die Küche gehen. „Geh kurz ins Zimmer“, sagte ich. „Zieh dir was Warmes an. Ich bin gleich wieder da.“
Sie gehorchte, aber ich sah, wie sie mich mit den Augen fragte: Wohin gehst du?
Ich fuhr los.
Nicht weit. Nur zu einem kleinen, neutralen Ort, wo ich mich kurz sammeln konnte – ein Café, das nicht unseres war, nicht ihres, nicht irgendjemandes „Bekanntes“. Ich setzte mich an einen Tisch am Fenster, bestellte etwas Einfaches, und öffnete auf meinem Handy meine Kontoauszüge.
Ich machte Screenshots. Monat für Monat. Datum, Betrag, Empfänger. Ich schrieb mir die Bestätigungsnummern in mein Notizbuch. Nichts Spektakuläres. Nur sauber.
Dann machte ich Schritt zwei: Ich brauchte eine Person außerhalb der Familie.
Jemanden, der nicht emotional verstrickt ist. Jemanden, der später sagen kann: Ja, das habe ich gesehen. Ja, so war es.
Ich rief eine alte Bekannte an – eine Frau aus Junas Umfeld, die ich mochte, weil sie direkt war und nicht gern um den heißen Brei redete: **Katrin**, die Mutter von Junas Freundin.
Ich sagte nicht alles am Telefon. Ich sagte nur: „Ich muss kurz mit dir sprechen. Es geht um Juna. Kannst du heute Nachmittag fünf Minuten?“
Sie zögerte nicht. „Komm vorbei.“
Als ich zurückkam, war Juna im Flur und tat so, als hätte sie zufällig dort gestanden. Ich wusste, sie hatte auf mein Auto gehört.
„Alles okay?“, fragte sie.
Ich nickte. „Ja. Du bist okay.“
Am Nachmittag brachte ich Juna zu ihrer Freundin. Ich blieb nicht lange. Ich wollte nicht, dass es wie ein Verhör wirkt. Aber als Juna die Treppe hochging, blieb ich unten bei Katrin in der Küche stehen.
Katrin sah mich an und sagte sofort: „Du wirkst, als würdest du gleich jemanden zerlegen.“
Ich atmete aus. „Ich will niemanden zerlegen. Ich will verstehen. Und ich will, dass Juna nicht mehr so lebt.“
Katrin wurde ernst. „Sag’s.“
Also sagte ich es – ohne große Worte. Dass ich jeden Monat Geld geschickt hatte. Dass Juna nichts davon wusste. Dass sie gearbeitet hat. Dass sie Dinge verkauft hat.
Katrin legte die Hand auf den Tisch. „Wir haben uns gewundert“, sagte sie leise. „Wir haben wirklich gedacht, deine Eltern hätten es schwer. Juna hat nie um etwas gebeten. Sie hat immer gesagt: ‚Ist nicht drin.‘“
„Hat sie bei euch…“, ich stockte. „Hat sie bei euch jemals…“
„Sie hat sich geschämt“, sagte Katrin. „Bei einem Geburtstag hatte sie kein Geschenk. Sie war so rot im Gesicht, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Wir haben dann so getan, als wäre der Beutel verloren gegangen, damit sie nicht untergeht.“
Mir stiegen Tränen in die Augen, aber ich zwang sie zurück. „Kannst du das aufschreiben?“, fragte ich.
Katrin nickte sofort. „Sag mir nur, was du brauchst. Ich schreibe, was ich gesehen habe.“
Das war Schritt zwei: ein Zeuge, ohne Lärm.
Schritt drei war die Schule. Sie war zwar in den Ferien, aber ich wollte nicht warten. Ich rief am selben Abend an, nicht um jemanden „in Schwierigkeiten“ zu bringen, sondern um Dokumentation zu bekommen.
Am nächsten Tag bekam ich einen Termin für ein kurzes Gespräch mit der Beratungsstelle der Schule. Ich fuhr hin, während Juna bei Katrin blieb. Ich wollte, dass sie nicht in einem Büro sitzt und das Gefühl hat, sie sei „das Problem“.
Die Frau, die mich empfing, war freundlich, aber professionell. Sie sagte: „Wir können nicht über alles reden, aber wir können Ihnen erklären, was dokumentiert wurde.“
Ich bat um ganz einfache Dinge: Hinweise aus dem Klassenbuch, Gesprächsnotizen, Mitteilungen an die Erziehungsberechtigten.
„Gab es Auffälligkeiten?“, fragte ich.
Sie nickte bedächtig. „Ja. Ab dem Frühjahr. Juna war müde. Sie hat Aufgaben nicht abgegeben. Mehrmals wurde vermerkt, dass sie am Montag erschöpft wirkt.“
„Und… haben Sie jemanden kontaktiert?“
„Wir haben mit den Erziehungsberechtigten gesprochen“, sagte sie. „Uns wurde gesagt, Juna wolle am Wochenende arbeiten, um ‚Verantwortung‘ zu lernen.“
Ich spürte, wie mir die Hände kalt wurden. Verantwortung. Dieses Wort war wie eine Maske, hinter der man alles verstecken konnte.
„Gibt es diese Gespräche schriftlich?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie. „Es gibt Protokolle und E-Mails.“
Ich bat um Kopien. Nicht als Drohung. Als Schutz.
Als ich wieder im Auto saß, atmete ich lange aus. Ich hatte jetzt nicht nur Gefühl, nicht nur Bauch. Ich hatte Spuren.
Am Abend, zurück bei meinen Eltern, war die Luft anders. Meine Mutter war übertrieben freundlich. Mein Vater machte Geräusche im Haus, als müsste er ständig beschäftigt sein. Kerstin schrieb Nachrichten auf ihrem Handy, ohne mich anzusehen.
Und Juna… Juna beobachtete alles. Still. Wach.
Als sie später in ihrem Zimmer war, hörte ich leise Stimmen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Nicht deutlich, aber deutlich genug, um einzelne Sätze zu fangen.
„Sie weiß was“, zischte meine Mutter.
„Dann bleib bei der Geschichte“, murmelte mein Vater.
„Und die Belege?“, flüsterte Kerstin. „Ihr hättet das weglegen müssen.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Mein Herz schlug so laut, dass ich dachte, sie müssten es hören. Ich ging leise weiter, als wäre ich zufällig auf dem Weg zum Bad gewesen.
In meinem Zimmer setzte ich mich auf die Bettkante und sah auf meine Notizen. Kontoauszüge. Junas Liste. Katrins Zusage. Schulprotokolle. Und jetzt auch noch diese Sätze – ein Hinweis, dass es keine „Verwirrung“ war, sondern Planung.
Es war spät, als Juna zu mir kam. Sie stand in der Tür, als wüsste sie nicht, ob sie rein darf, obwohl es immer unser Zimmer gewesen war.
„Kann ich…?“, fragte sie.
Ich klopfte auf die Bettdecke. „Immer.“
Sie kroch zu mir, legte den Kopf an meine Schulter. „Ich hab Angst, dass sie sauer auf mich sind“, flüsterte sie.
„Wenn sie sauer sind, dann nicht, weil du etwas falsch gemacht hast“, sagte ich. „Sondern weil Wahrheit unbequem ist.“
Juna schwieg einen Moment. Dann sagte sie: „Ich will nicht, dass du gehst.“
Ich schluckte. „Ich gehe nicht weg von dir. Nie wieder so, wie es war.“
Sie atmete aus, als hätte sie den Satz gebraucht wie Luft.
Ich strich ihr über den Rücken. Draußen schimmerte die Weihnachtsbeleuchtung durch das Fenster, friedlich, als wäre alles in Ordnung.
Aber ich wusste: Wir waren nicht am Ende, sondern erst am Anfang.
Und ich wusste auch: Der nächste Schritt würde nicht in der Küche passieren, nicht in einem Streit, nicht mit lauter Stimme.
Der nächste Schritt würde dort passieren, wo Lügen am wenigsten Platz haben: im Licht von anderen Augen.
Weihnachten stand vor der Tür. Und mit ihm die Familie.
Ich würde nicht schreien.
Ich würde nur die Wahrheit auf den Tisch legen – so ruhig, dass niemand sagen kann, ich hätte „übertrieben“.
Und so klar, dass Juna zum ersten Mal seit Monaten nicht mehr das Gefühl haben muss, sie müsse sich klein machen, um irgendwo hineinzupassen.
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