Teil 4: Das Bild, das nicht existieren dürfte
Es war noch dunkel, als sie aufwachte.
Nicht wegen eines Traums. Nicht wegen der Kälte.
Etwas hatte sie gerufen – lautlos, aber deutlich.
Ein Gefühl. So, wie man manchmal weiß, dass jemand einen ansieht, obwohl man es nicht sehen kann.
Sie stand auf. Der Wind stand still. Kein Regen, kein Knacken. Nur das leise Summen ihrer alten Wanduhr.
Die Küche war leer. Die Tasse vom Vorabend noch auf dem Tisch. Draußen lag der Garten in tiefem Schwarz.
Dann sah sie es.
Etwas lag auf der Holzbank draußen.
Genau dort, wo Rufus immer gelegen hatte.
Sie öffnete die Tür vorsichtig.
Die Stille war vollkommen. Keine Käuzchen, keine Blätter, kein Flügelschlag.
Langsam trat sie hinaus.
Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Gegenstand griff.
Ein Foto.
Halb feucht vom Tau. Die Ecken leicht gewellt.
Aber deutlich zu erkennen.
Johann.
Sie selbst.
Und ein junger Schäferhund, der gerade die Pfote in ihre Hand legte.
Sie sog scharf die Luft ein.
Das Bild – dieses Bild – existierte nicht.
Nicht so.
Sie erinnerte sich an den Tag, ja: Der Ausflug an den Bach, kurz nach ihrer Verlobung. Johann hatte sie damals fotografiert. Aber Rufus war da noch nicht geboren.
Und doch…
Da war er. Auf dem Bild.
Mit genau dem Blick, den sie kannte.
Die linke Ohrspitze leicht geknickt.
Der schwarze Fleck unter dem Auge.
Unverkennbar.
Sie ging zurück ins Haus, setzte sich auf die Bank neben den alten Ofen und starrte lange auf das Bild.
War es ein Scherz? Ein Irrtum?
Oder… war es ein Zeichen?
—
Am nächsten Tag brachte sie das Foto zu Felix.
Er betrachtete es lange, sagte dann:
„Ich glaub, manche Erinnerungen kommen erst, wenn man bereit ist, sie zu sehen.“
„Aber das ist doch nicht möglich…“
Er reichte ihr das Bild zurück.
„Wissen Sie – vielleicht hat sich nicht das Bild verändert. Sondern Sie.“
Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.
—
Im Dorf begann der Wind sich zu drehen.
Die Leute sprachen über Tiere, die ungewöhnlich nahe an die Häuser kamen.
Ein Waschbär saß auf dem Kirchturm.
Ein Bussard nistete plötzlich in einem Apfelbaum.
Ein alter Dachs hatte sich im Schuppen des Kindergartens eingenistet – und ließ sich nicht vertreiben.
Die Förster schüttelten den Kopf.
„Die Natur spielt verrückt“, sagte einer.
Aber Martha wusste es besser.
—
Es war eine Woche später, als sie den Fuchs wieder sah.
Er saß am Rand der Lichtung. Diesmal war er nicht allein.
Neben ihm: ein zweiter Fuchs, kleiner, heller.
Ein Junges?
Sie trat langsam aus dem Haus, ohne ein Geräusch zu machen.
Der Fuchs hob den Kopf, blinzelte – dann stand er auf.
Das Junge blieb zurück, ein Moment lang, dann folgte es.
Beide verschwanden im Wald.
Aber wo sie gestanden hatten, lag etwas im Gras.
Ein Stein.
Glatt. Oval.
Und eingekratzt mit zwei Linien, die sich kreuzten – fast wie ein einfaches Herz. Nur roh, unperfekt, echt.
Martha hob ihn auf.
Sie verstand es nicht. Aber sie spürte es.
Da war etwas im Gange.
Etwas, das über Worte hinausging.
—
In der Nacht träumte sie.
Von Rufus.
Aber nicht als alter Hund.
Er war jung. Kraftvoll. Er rannte durch ein Feld, voller Wind und Licht, die Ohren flogen, und hinter ihm – keine Kette, kein Zaun, keine Begrenzung.
Dann drehte er sich um.
Sah sie an.
Und sie hörte eine Stimme. Nicht laut. Nicht wie ein Mensch.
Ein Gefühl, das wie Worte klang:
„Du hast mich gehen lassen. Jetzt kannst du wieder empfangen.“
—
Am nächsten Tag klopfte es.
Nicht an der Tür.
An der Fensterscheibe.
Sanft. Zart.
Ein Eichelhäher saß dort.
Im Schnabel: ein kleines, zusammengerolltes Stück Papier.
Sie öffnete das Fenster, vorsichtig.
Der Vogel legte das Papier auf die Fensterbank.
Sah sie an. Nur einen Moment.
Dann flog er fort.
Martha entrollte es.
Eine Kinderzeichnung.
Drei Figuren.
Ein Mädchen, ein Junge – und ein großer Hund.
Darunter stand: „Wir vermissen ihn auch.“
In der Ecke: Der Name „Lina“.
—
Sie griff zum Telefon.
Rief im Heim an.
„Kann ich Lina mal sprechen?“
Kurze Pause, dann ein Räuspern.
„Frau Kaltenbach… das wird schwierig. Lina ist letzte Woche… fort. Sie wurde von einer anderen Familie aufgenommen. Sie hat ein neues Zuhause.“
Martha stockte.
„Sie war doch gestern hier.“
„Nein, das kann nicht sein. Sie ist über hundert Kilometer entfernt. Und… ich darf das eigentlich nicht sagen, aber… sie hatte einen kleinen Unfall. Sie liegt im Krankenhaus.“
„Aber… ich habe eine Zeichnung von ihr bekommen.“
Stille.
„Dann hat sie es Ihnen vielleicht wirklich geschickt. Manchmal… finden solche Dinge ihren Weg.“
—
Martha legte langsam auf.
Sie faltete die Zeichnung sorgfältig zusammen, legte sie in eine alte Schublade, neben das Halsband und den glatten Stein.
Dann ging sie hinaus.
—
Der Wind war milder geworden.
Die ersten Blätter färbten sich.
Der Apfelbaum trug dieses Jahr besonders viele Früchte – als hätte er begriffen, dass jemand fort war.
Sie setzte sich auf die Bank.
Schloss die Augen.
Und plötzlich wusste sie:
Sie war nicht mehr allein.
Nicht wirklich.
—
Als Martha am nächsten Morgen in den Garten tritt, findet sie im Tau ein frisches Hundepfotenpaar – eindeutig zu groß für einen Fuchs. Sie führen zu einem neu entstandenen Hohlraum unter der alten Terrasse. Als sie in die Dunkelheit späht, hört sie ein leises Atmen…