Teil 6: Der Hase unter der Erde
Die Dämmerung war wie ein Schleier.
Weich, grau, durchwoben von feinem Nebel, der zwischen den Baumkronen hing wie vergessenes Tuch. Die Schatten wurden länger, doch kein Laut kam aus dem Wald. Nur das regelmäßige Schaben von Pfoten auf Erde.
Martha trat aus der Küche.
Der Hund – der noch immer keinen Namen trug – war im Garten.
Nicht auf der Terrasse. Nicht im Schatten.
Er grub.
Langsam, beharrlich.
Mit den Vorderpfoten schob er Moos und Erde zur Seite, schabte vorsichtig mit der Schnauze an Wurzeln vorbei.
Martha ging näher.
Und dann erstarrte sie.
Er grub dort, wo Rufus lag.
Nicht genau am Grab. Etwas daneben.
Doch nah genug, dass es sich wie ein Eindringen anfühlte. Fast wie ein Verrat.
„Nein… hör auf.“ Ihre Stimme war rau, kaum lauter als der Wind.
Doch er hörte nicht auf.
Oder – nicht sofort.
Erst als seine Nase an etwas stieß, hielt er inne.
Sein ganzer Körper wurde still.
Er legte sich hin, schob mit der Pfote ein kleines Bündel hervor – ganz sacht.
Dann wich er zurück, trat zwei Schritte zurück, setzte sich.
Martha kniete sich nieder.
Vor ihr lag ein zerfetzter, verschlammter Stoffhase.
Das linke Ohr fehlte. Der Bauch war aufgerissen, die Füllung nur noch in Resten vorhanden.
Und doch erkannte sie ihn sofort.
„Mein Gott…“
Sie hob ihn hoch, vorsichtig, als wäre er aus Glas.
Der Geruch war modrig, erdig, alt.
„Den gibt es doch gar nicht mehr“, flüsterte sie.
Sie hatte ihn Johann vor vielen Jahren genäht. Als Trost, als der kleine Bruder gestorben war.
Der Hase war sein Schutz gewesen – im Internat, im Lazarett, selbst noch im Alter.
Bis er plötzlich verschwunden war. Vor fast vierzig Jahren.
Johann hatte ihn überall gesucht. Tagelang.
Und irgendwann gesagt: „Vielleicht hat ihn jemand gebraucht, der ihn nötiger hatte.“
Martha hatte es nie verstanden.
Jetzt… vielleicht ein wenig mehr.
—
Der Hund sah sie an.
Keine Ungeduld. Keine Erwartung.
Nur dieses stille Fragen: Ist es richtig so?
Sie nickte.
„Danke.“
Und er legte sich wieder nieder.
Genau an die Stelle, wo er den Hasen gefunden hatte.
Nicht auf das Grab. Sondern daneben.
Wie ein Wächter. Wie ein zweiter.
—
In der Nacht konnte sie nicht schlafen.
Sie stellte den Hasen in eine alte Tonschale, legte ein Tuch darüber und platzierte ihn auf das Fensterbrett.
Der Mond schien hell.
Der Hund schlief draußen.
Aber etwas an diesem Abend war anders.
Ein leises Summen lag in der Luft – als würde sich etwas zusammenfügen.
—
Am nächsten Morgen kam Felix.
Er sah den Hasen.
Sagte nichts. Aber sein Blick blieb lange daran hängen.
Dann fragte er:
„Darf ich ihm einen Namen geben?“
„Dem Hund?“
„Ja.“
Martha lächelte müde.
„Versuch’s.“
Felix überlegte.
„Er gräbt. Er findet. Und er spricht nicht. Vielleicht… Grabur?“
Sie schmunzelte.
„Wie ein Zwerg aus einem alten Märchen.“
Felix nickte ernst.
„Aber er ist keiner. Er ist echt.“
—
Von da an nannte sie ihn „Grabur“.
Und er hörte nicht auf den Namen – aber er drehte jedes Mal den Kopf, wenn sie ihn sprach.
—
Es war ein milder Herbst, wie gemacht für Abschiede.
Die Bäume verloren Blätter in sanften Wellen, der Apfelbaum trug seine letzten Früchte.
Die Sonne wärmte nur noch schräg von der Seite.
Grabur blieb.
Er schlief nun öfter direkt auf der Bank.
Einmal legte er sogar den Kopf auf Marthas Knie.
Sie streichelte ihn nicht.
Aber sie war da.
Und er auch.
—
Der Stoffhase lag jetzt auf der Kommode, in ein neues Tuch eingeschlagen.
Felix hatte ein paar Stiche gesetzt, um das offene Ohr zu schließen.
Lina hatte ein neues Auge aus Knopflochseide aufgestickt, als sie das nächste Mal kam.
„Er sieht traurig aus“, sagte sie.
„Aber nicht verlassen.“
Martha nickte.
„Das ist vielleicht das Beste, was man sein kann.“
—
Eines Morgens fand sie einen Brief im Briefkasten.
Handschriftlich. Kein Absender.
Sie erkannte die Schrift sofort.
Johanns.
Doch das konnte nicht sein.
Sie öffnete ihn mit zitternden Fingern.
„Marthl, falls du das hier je bekommst –
und irgendetwas in dir spürt, dass es Zeit ist: Nimm Abschied ohne Schuld. Manchmal kommen Dinge zurück, weil sie wissen, dass du nun loslassen kannst.
Ich habe den Hasen vergraben, damit du ihn nicht mehr an mich binden musst. Aber du hast ihn wiedergefunden – oder er dich.“
„Vergiss nicht: Liebe bleibt. Auch wenn Wind kommt. Auch wenn Stille wird.“
„Dein Johann“
—
Sie saß lange am Tisch, den Brief in den Händen.
Draußen bellte Grabur einmal. Kurz. Tief.
Sie trat hinaus.
Er stand am Rand des Gartens.
Der Nebel stieg langsam vom Tal herauf.
Er sah sie an –
und ging los.
Nicht panisch. Nicht flüchtend.
Sondern wie jemand, der seinen Weg kennt.
Sie ging nicht hinterher.
Sie sah ihm nur nach.
Bis der Nebel ihn verschluckte.
—
An diesem Abend war die Bank leer.
Und doch – als sie die Tür schloss, spürte sie es:
Etwas war heil geworden.
—
Als sie am nächsten Morgen die Tonschale mit dem Hasen betrachtet, liegt darunter ein weiteres Objekt: ein verrosteter Schlüssel mit eingraviertem Buchstaben „J“. Der Schlüssel passt zu einer Truhe, die sie Jahrzehnte nicht geöffnet hat – auf dem Dachboden…