Teil 8: Das Mädchen bei Nacht
Die Nacht war klar.
Kein Nebel, kein Wind – nur die Sterne, so deutlich wie seit Wochen nicht mehr. Die Luft hatte diesen besonderen Geruch nach kaltem Laub, frisch geschnittenem Holz und der Ahnung eines nahenden Frosts.
Martha war früh zu Bett gegangen, doch der Schlaf kam nicht.
Sie lag wach, das Fenster einen Spalt geöffnet, lauschte.
Dann hörte sie es.
Kein Laut – nicht wirklich.
Eher eine Veränderung im Raum.
Wie wenn jemand einen Blick auf einen richtet. Oder ein Gedanke still den Namen flüstert.
Sie stand auf, ging zum Fenster.
Und sah sie.
Ein Mädchen, barfuß im Gras.
Ein schlichtes Nachthemd, lang bis zu den Knöcheln.
Die Haare hell, leicht verfilzt wie von Regen.
In den Armen: ein Dackel.
Alt, mit grauer Schnauze, aber friedlich ruhend.
Das Mädchen stand direkt unter dem Apfelbaum.
Sie sah nicht zufällig dorthin.
Nicht verloren.
Sie sah zu ihr.
Direkt.
Und sie lächelte.
Ein leises, wissendes Lächeln – als ob sie Martha längst kannte.
Martha öffnete das Fenster ganz.
Kein Laut.
„Wer… bist du?“
Keine Antwort.
Nur dieses ruhige Stehen im Mondlicht.
Dann beugte sich das Mädchen leicht vor.
Setzte den Dackel vorsichtig ins Gras.
Er drehte sich einmal, schüttelte die Ohren und legte sich dann nieder. Ganz selbstverständlich.
Wie zuhause.
Das Mädchen berührte den Stamm des Apfelbaums.
Dann drehte sie sich um, ging langsam Richtung Wald.
Der Hund blieb.
Martha stand da. Barfuß am Fensterrahmen. Das Herz schlug leise. Nicht aus Angst – sondern aus etwas anderem.
Etwas, das sich wie Wiedererkennen anfühlte.
Als sie am nächsten Morgen hinausging, war der Apfelbaum still.
Aber im Gras lagen zwei Dinge:
Ein kleiner Fußabdruck.
Und ein getrocknetes Gänseblümchen.
—
Sie erzählte es niemandem.
Nicht Felix. Nicht Lina.
Nicht einmal sich selbst so richtig.
Aber sie holte eine alte Hundedecke vom Dachboden.
Legte sie neben die Gartenbank.
Und am nächsten Abend – noch ehe die Sonne unterging – lag der Dackel dort.
Still, freundlich, als wäre es nie anders gewesen.
Er hatte kein Halsband.
Kein Zögern.
Nur Augen, die viel gesehen hatten.
Und ein Atem, der ruhig war.
Sie nannte ihn „Alma“.
Nicht weil es passte – sondern weil der Name plötzlich da war.
—
Alma blieb.
Er war kein junger Hund, aber auch kein gebrochener.
Er bewegte sich langsam, aber mit Würde.
Und er hatte eine Angewohnheit: Er legte sich nie ins Haus. Nur unter den Apfelbaum. Oder vor das Fenster.
Einmal legte er seinen Kopf gegen den Grabstein von Rufus.
Ganz sacht.
Und blieb dort eine Stunde, ohne sich zu rühren.
Martha beobachtete es aus dem Fenster.
Und wusste: Es war kein Zufall.
—
Felix war überrascht.
„Wo kommt der her?“
„Er wurde gebracht.“
„Von wem?“
„Von jemandem, der nicht sprechen musste.“
Er nickte. Sagte nichts weiter.
Aber er setzte sich zu Alma.
Und streichelte ihn.
—
Es war ein ruhiger Oktober.
Lina brachte ein altes Körbchen vorbei.
„Das war früher für Kaninchen“, sagte sie.
„Aber ich glaube, er braucht jetzt einen Platz. Auch wenn er nicht lange bleibt.“
Martha stellte es auf die Terrasse, in eine windgeschützte Ecke.
Alma nahm es sofort an.
Er schob sich hinein, drehte sich einmal – und seufzte.
Wie jemand, der endlich angekommen war.
—
Eines Abends kam ein Brief vom Tierheim.
„Wir danken für Ihr Angebot. Es war ungewöhnlich. Berührend.
Aber wir müssen Sie fragen: Woher wussten Sie von Alma?“
Martha las den Satz dreimal.
Dann schrieb sie zurück:
„Ich wusste es nicht. Aber irgendetwas hat es gewusst.“
—
Die Tage wurden kürzer.
Die Bäume trugen ihre letzten Farben.
Die Linde verlor in einer Nacht fast alle Blätter.
Und der Apfelbaum warf sein letztes Geschenk: ein besonders kleiner, besonders roter Apfel – direkt vor Marthas Tür.
Sie hob ihn auf.
Biss hinein.
Er schmeckte süß. Und ein wenig nach Abschied.
—
In der Nacht träumte sie von Johann.
Er stand unter dem Apfelbaum, wie damals.
Rufus saß neben ihm.
Und auf seinem Arm: ein Kind. Nicht älter als fünf.
Das Kind hielt Alma im Arm.
Johann sagte nichts.
Aber sein Blick war weich.
Er nickte.
Und dann sprach das Kind:
„Wir bringen sie dir nur zurück. Damit du nicht vergisst, dass du noch lieben kannst.“
—
Martha wachte mit Tränen auf.
Aber sie lächelte.
—
Als sie am nächsten Morgen Alma füttern will, ist das Körbchen leer. Nur ein Pfotenabdruck bleibt zurück – und daneben: ein kleines Medaillon, das einst Johann gehörte. Als sie es öffnet, sieht sie sich selbst – jung – mit Rufus und einem Kind, das nie geboren wurde…