Wenn der Wind leiser wird | Als der alte Hund verschwand, brachte der Wind etwas zurück, das niemand je gekannt hatte.

Teil 9: Das Bild im Medaillon

Der Morgen war anders.

Nicht durch das Licht, nicht durch den Tau, der wie gewohnt den Rasen bedeckte.
Sondern durch das Fehlen.

Almas Körbchen war leer.

Kein Laut, kein Bellen, keine Pfoten im Gras.
Nur Stille.
Und ein feiner, kaum sichtbarer Pfotenabdruck im Tau – als hätte er gewartet, bis die Welt ihn nicht mehr brauchte.

Martha stand eine lange Weile da.
Die Kanne mit Wasser noch in der Hand, das Futter unangerührt.
Dann sah sie es.

Ein kleiner, silbriger Gegenstand lag dort, wo Alma gelegen hatte.
In der Mulde der Decke, als hätte ihn jemand ganz bewusst abgelegt.

Sie kniete sich hin.
Es war ein Medaillon.
Oval, alt, angelaufen, die Scharniere schwergängig.

Sie erkannte es sofort.

Es gehörte Johann.
Einmal hatte er es getragen, an einer schlichten Lederkette unter dem Hemd.
Sie hatte ihn gefragt, was darin sei.
Er hatte gelächelt und gesagt: „Das, was bleiben darf.“
Dann hatte er es versteckt. Und nie wieder erwähnt.

Nun lag es da.

Sie öffnete es.

Das Innere war überraschend klar – kein Staub, kein Rost.

Links: ein Foto von ihr selbst.
Jung, lachend, mit Rufus als Junghund an ihrer Seite.

Rechts: ein Kind.

Ein Junge. Fünf, vielleicht sechs Jahre alt.
Dunkles Haar. Große Augen.
Er hielt Rufus im Arm. Oder… einen Hund, der ihm glich.

Martha zog scharf die Luft ein.

Denn dieses Kind –
gab es nicht.

Sie hatte nie ein Kind geboren.

Und doch war das Gesicht vertraut.
Wie aus einem Traum, den man nicht zuordnen kann, aber dessen Wärme bleibt.

Sie hielt das Medaillon fest an die Brust.

Nicht aus Angst.
Sondern aus einem tiefen, fast zärtlichen Schmerz.

Später saß sie am Küchentisch.

Der Tee war kalt geworden.

Sie starrte auf das Medaillon, das nun neben dem Notizbuch lag.
Daneben: der Hase. Der Schlüssel. Das Foto von Balto.

Ein Altar der Erinnerung.
Und vielleicht auch: ein Versprechen.

Sie schlug Johanns Notizbuch erneut auf.

Seite 42.
Ein neuer Eintrag, den sie vorher übersehen hatte:

„Ich habe ihn gesehen. In meinem Traum. Der Junge. Er ist das, was wir nie hatten – und doch in uns trugen.“

„Vielleicht gibt es Orte, an denen das, was nie geschah, für einen Moment leben darf.“

„Vielleicht bringt die Liebe uns nicht nur zurück, was war – sondern auch, was hätte sein können.“

Martha las die Zeilen immer wieder.
Und irgendwann, ganz still, begannen ihre Finger zu zittern.

Denn sie erinnerte sich.
An einen Sommer. 1966.
An eine kurze Hoffnung. An ein leises Nein des Körpers.

An das, was sie nie aussprach.

Und doch nie vergaß.

Sie trat hinaus.
Der Himmel war grau, schwer, fast silbern.
Die Bank unter dem Apfelbaum war leer.

Aber das Gras war flach gedrückt.
Wie von einem Kind, das dort gesessen hatte.
Oder von einem Hundekörper, der sich eingerollt hatte.

Sie setzte sich.

Das Medaillon in der Hand.

Und dann, zum ersten Mal seit vielen Jahren, sprach sie laut:

„Ich vergebe mir.“

Die Worte blieben kurz in der Luft stehen –
dann sanken sie in die Erde.
Wie Samen.

Am Nachmittag kam Lina vorbei.
Sie trug eine Mütze mit Ohren, selbst gehäkelt.
In der Hand: ein kleiner Briefumschlag.

„Ich habe geträumt“, sagte sie.

„Von wem?“

„Von dir. Und von einem Jungen. Er hat mir gesagt, ich soll dir das geben.“

Sie überreichte ihr den Umschlag.
Innen: ein Blatt Papier, zusammengefaltet.

Darauf stand – in krakeliger Kinderschrift:

„Er ist angekommen.“

„Danke, dass du ihn empfangen hast.“

„Er hat den Hund zurückgebracht, damit du dich erinnerst, dass er nie fort war.“

Martha weinte.
Nicht aus Trauer.
Nicht einmal aus Freude.

Sondern aus etwas Tieferem.
Aus dieser seltenen Wahrheit, die sich nicht benennen lässt – nur fühlen.

In den folgenden Tagen begann sie aufzuräumen.

Nicht wie jemand, der sich vorbereitet zu gehen.
Sondern wie jemand, der endlich angekommen ist.

Sie räumte den Dachboden.
Säuberte die Truhe.
Sortierte alte Briefe, vernichtete nichts – aber verstaute sie ordentlich.

Sie pflanzte einen neuen Apfelbaum – direkt neben dem alten.
Noch ein dünner, junger Stamm, kaum höher als ihre Schulter.

„Für das, was hätte sein können“, sagte sie.

Und der Wind strich durch die Zweige –
als Antwort.

Felix half ihr, ein kleines Holzschild zu basteln.

Sie schrieb mit zitternder, aber fester Hand:

„Für Rufus. Für Grabur. Für Alma.
Für den Jungen.
Für das, was blieb.“

Am Abend des ersten Frosts geht sie ein letztes Mal durch den Garten. Als sie zurück zum Haus will, steht dort – wo nie eine Tür war – ein kleiner Holzrahmen mit einem Briefchen daran. Innen: eine Zeichnung. Der Junge winkt. Und neben ihm: alle drei Hunde. Lebendig. Wach. Und wartend.

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