Wenn der Wind leiser wird | Als der alte Hund verschwand, brachte der Wind etwas zurück, das niemand je gekannt hatte.

Teil 10: Wenn der Wind wieder spricht

Der erste Frost kam lautlos.

Er legte sich in der Nacht über das Land wie eine hauchdünne Haut aus Glas. Auf die Fensterscheiben, auf das Dach des Gartenhäuschens, auf die letzte rote Rose vor dem Küchenfenster. Die Blätter klirrten nun, wenn sie fielen, und der Apfelbaum stand da wie ein Wächter in Winterrüstung.

Martha Kaltenbach stand früh auf.

Nicht weil sie musste. Sondern weil sie es spürte: Der Morgen war anders.

Sie kochte Tee, wie immer, legte das Medaillon neben die dampfende Tasse, zog sich ihre gestrickte Jacke über und ging hinaus.

Der Boden knisterte unter ihren Sohlen. Die Bank unter dem Apfelbaum war mit Reif überzogen.
Doch sie setzte sich.

Und dann sah sie es.

Dort, wo nie eine Tür gewesen war – auf der alten Seite des Hauses, die längst von Efeu und Zeit bedeckt war – stand ein kleiner Holzrahmen. An einen Ast gebunden, kaum größer als ein Backblech.
Ein Briefchen hing daran.
Mit einer Wäscheklammer.
Handgemalt.

Sie stand auf, ging langsam dorthin.
Der Frost knirschte leise – fast ehrfürchtig – unter ihren Schritten.

Sie nahm den Zettel.

Es war eine Zeichnung.

Mit Kinderhand gezeichnet. Bunt. Ungleichmäßig.
Aber voller Wärme.

Darauf: Ein Junge.
Er stand neben drei Hunden.
Rufus. Grabur. Alma.
Deutlich zu erkennen. Jedes Ohr, jede Narbe, jeder Blick.

Und der Junge –
er winkte.

Martha streichelte mit dem Daumen über das Papier.
Darunter stand:

„Wir warten nicht auf dich. Wir begleiten dich, so lange du willst.“

„Wenn du loslassen willst, sind wir da.“

„Wenn du bleibst, auch.“

Sie nahm den Rahmen ab. Trug ihn ins Haus.

Stellte ihn auf die Truhe.
Daneben: das Medaillon. Der Hase. Das Notizbuch. Der Apfel vom Abschiedstag – mittlerweile hart, aber noch glänzend.
Ein Altar?
Vielleicht.

Oder einfach nur: ein Zuhause für das Unsichtbare.

Die Tage wurden kürzer.
Der Garten ging zur Ruhe.
Die Bienen verschwanden, die Amseln wurden seltener.

Und Martha?
Sie wurde stiller.

Nicht schwächer.
Nicht gebrechlich.
Aber langsamer.

Als hätte auch sie begriffen, dass das Jahr zu Ende ging – und dass es nicht traurig sein musste.

Felix kam jeden zweiten Tag.
Er kehrte Laub. Er brachte neue Teelichter.
Er las manchmal laut aus Johanns Notizbuch, mit ehrfürchtiger Stimme.

Einmal fragte er:

„Haben Sie Angst?“

Martha schüttelte den Kopf.

„Ich hatte sie lange. Aber sie ist mit dem Wind gegangen.“

Felix schwieg.
Dann sagte er:
„Ich glaube, der Junge in der Zeichnung ist in echt nie weg gewesen.“

An einem besonders klaren Wintermorgen, mit Raureif auf allen Zweigen, trat Martha noch einmal hinaus.
Langsam, bedacht.

In der einen Hand das Medaillon.
In der anderen einen kleinen Leinenbeutel.

Sie ging zum Apfelbaum.
Kniete sich nieder.
Und begann zu graben.

Nicht tief. Nur eine kleine Mulde.

Dort hinein legte sie:

– den Hasen
– das Medaillon
– den Apfel
– ein Stück von Johanns Handschrift, ausgeschnitten aus dem Notizbuch: „Du darfst dich erinnern, ohne zu bleiben.“

Dann schob sie die Erde darüber.
Drückte sie fest.
Und legte die Hand darauf.

Sie sprach nichts.
Aber der Wind flüsterte.

Und diesmal verstand sie ihn.

An diesem Abend legte sie sich früh ins Bett.

Sie nahm das Notizbuch mit, schlug es auf.
Las.
Dann schloss sie es.
Und ihre Augen.

Am nächsten Morgen fand Felix sie.

Still. Friedlich.
Ein Lächeln auf dem Gesicht.
In der Hand: ein zusammengefalteter Zettel, den niemand zuvor gesehen hatte.

Darauf:

„Ich bin nicht fort.“

„Ich bin dort, wo der Wind leiser wird.“

Sie begruben sie unter dem Apfelbaum.
Auf ihren Wunsch hin.

Lina brachte ein kleines Holztäfelchen.
Felix schrieb mit ruhiger Hand:

„Hier ruht Martha Kaltenbach.
Freundin der Tiere.
Hüterin des Vergangenen.
Herz, das blieb.“

In den Wochen danach sah man immer wieder etwas:

– ein Fuchs, der über den Garten lief
– einen Eichelhäher, der auf der Bank schlief
– ein Reh, das nachts am Grab verweilte
– und dreimal: einen Hund, groß, alt, mit gebrochener Ohrspitze

Aber nie lange.
Nur flüchtig.
Wie ein Gruß.
Oder wie ein Versprechen.

Und manchmal, wenn der Wind durch die Äste fährt –
ganz leise, ganz weich –

klingt es, als würden Pfoten durchs Laub gehen.
Als würde jemand den Atem anhalten.
Als würde die Welt für einen Moment nicht vergessen, wer sie war.

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