ICH BIN HEUTE MORGEN UM 9 UHR VERSCHWUNDEN.
Ich bin nicht gestorben. Ich wurde nicht entführt. Ich stand einfach in meiner eigenen Einfahrt in einer ruhigen Siedlung in Niedersachsen und sah zu, wie die Welt durch mich hindurchblickte.
Wir hatten eine Haushaltsauflösung. Das ist das deutsche Wort für etwas, das sich viel schlimmer anfühlt: Fremde durchstöbern die Erinnerungen aus 82 Jahren Leben, als wären es alte Prospekte.
Ein junges Paar blieb vor meinem massiven Eichenesstisch stehen.
Der Tisch, an dem meine Frau Helga fünfzig Weihnachtsessen serviert hat.
Der Tisch, an dem wir weinten, als die Mauer fiel.
Der Tisch, an dem wir anstießen, als unsere Tochter aus dem Ausland zurückkam.
„Der ist zu klobig“, meinte der junge Mann und verzog leicht das Gesicht.
„Und diese dunkle Farbe? Viel zu altmodisch. Den müsste man weiß streichen, sonst passt der in keine moderne Wohnung.“
Das tat nicht einfach weh. Es blutete.
Es ist merkwürdig, wie schnell dieses Land seine älteren Menschen übersieht.
Man wird nicht böse, man wird nicht laut, man wird unsichtbar.
Ich höre die Witze. Ich sehe die Memes auf den Smartphones, von denen ihr glaubt, wir könnten sie nicht bedienen.
Ihr nennt uns „altmodisch“, „umständlich“, „festgefahren“.
Ihr lacht über die Dinge, für die wir Monate gespart haben.
Ihr verdreht die Augen über unsere Schallplatten, die schweren Vorhänge, die Porzellanfiguren im Wohnzimmerschrank.
Aber ich verrate euch etwas, das weh tut:
Es bricht uns das Herz. Mehr als wir zugeben.
Die jungen Leute wollen die Möbel nicht, die wir jahrzehntelang gepflegt haben.
Sie wollen nicht das gute Porzellan, das nur zu Heiligabend auf den Tisch kam.
Sie wollen nicht die Fotoalben, in die wir Namen mit sorgfältiger Handschrift eingetragen haben.
Und das Schlimmste?
Manchmal scheint es, als wolltet ihr auch unsere Geschichten nicht.
Ihr schaut lieber auf einen Bildschirm als in unsere müden Augen.
Aber hört gut zu, denn Zeit ist ein Bumerang.
Gestern sah ich ein Mädchen mit einer hochgeschnittenen Jeans, die genauso aussah wie die Hose, die Helga 1968 trug.
Und neulich hörte ich im Radio ein Lied, das klang wie die Schlager, zu denen wir damals bis zum Morgengrauen getanzt haben.
Alles, was ihr heute auslacht, war einmal modern.
Alles, was ihr „hässlich“ nennt, war einmal ein Versprechen.
Und dieser „Vintage-Pulli“, den ihr im Secondhand-Laden ergattert habt?
So einen trug ich, als ich mit 20 auf meinem ersten Konzert war.
Die Farbe, mit der ihr eure Wohnung streicht?
Genau damit haben wir unser erstes gemeinsames Schlafzimmer gestrichen – jung, pleite und hoffnungslos verliebt.
Wir sind nicht mit Falten geboren.
Wir waren auch mal die Wilden.
Wir sind nächtelang durch Hamburg gelaufen.
Wir haben uns auf Demos die Kehle heiser geschrien.
Wir haben die Gebäude gebaut, in denen ihr heute arbeitet.
Wir haben die Straßen gelegt, auf denen ihr eure E-Autos ladet.
Wir waren schön. Wir waren stark.
Und ja, irgendwann hat die Zeit uns eingeholt.
Deshalb habe ich eine Bitte.
Wenn ihr das nächste Mal eine ältere Frau im Supermarkt seht, die ihr Kleingeld sortiert, oder einen älteren Mann, der langsam über die Straße geht, seht nicht durch sie hindurch.
Seufzt nicht.
Schenkt ihnen einen Moment Geduld.
Oder ein Lächeln.
Oder eine Frage.
Seht den Menschen, nicht das Alter.
Denn eines Tages, schneller als ihr denkt, wird eure Musik „Krach“ genannt werden.
Eure Mode wird „lächerlich“ sein.
Und jemand Junges wird auf euer altes Foto zeigen und lachen.
Und in diesem Moment werdet ihr hoffen, dass euch jemand ansieht wirklich ansieht und erkennt:
Da sitzt ein Mensch, der gelebt hat.
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