ICH SAß INMITTEN MEINES LEBENS WIE AUF EINEM FLOHMARKT
Ich wünschte, ich könnte euch sagen, dass mich jemand an diesem Vormittag gesehen hat.
Dass irgendein Blick länger als zwei Sekunden auf meinem Gesicht hängen geblieben wäre.
Ist nicht passiert.
Die Leute kamen im Strom. Sie trugen Turnschuhe, Sommerjacken, Rucksäcke. Sie trugen leere blaue Ikea-Taschen, die sie mit meinem Leben füllten.
„Was kostet der Plattenspieler?“
„Ist der Fernseher noch in Ordnung?“
„Kann man bei der Kommode was am Preis machen?“
Ich stand daneben, mit einer Kaffeetasse in der Hand, die ich nicht leer trank. Irgendwann schmeckte der Kaffee nach Metall.
Die Frau vom Entrümpelungsservice, sie heißt Frau Kramer, Mitte fünfzig, kurze Haare, praktischer Blick – versuchte, freundlich zu sein.
„Herr Berger, wenn es Ihnen zu viel wird, setzen Sie sich ruhig. Ich mach das hier.“
Ich nickte. Ich setzte mich an den Eichenesstisch, der ja angeblich „zu klobig“ war, und wurde zum Dekorationsstück in meiner eigenen Wohnung.
Von dort aus hatte ich die perfekte Aussicht auf meinen eigenen Untergang.
Ein junger Mann wühlte in der Schublade mit den Bestecken.
Eine Studentin hielt meine alten Taschenbücher hoch, kicherte bei einem kitschigen Cover und legte sie dann doch wieder zurück.
Ein Kind drückte seine klebrige Handfläche gegen die Glasscheibe des Wohnzimmerschranks, in dem meine Porzellanfiguren standen.
„Finger weg“, fauchte die Mutter, nicht aus Respekt, sondern aus Angst, sie müsse sie bezahlen, wenn etwas kaputtgeht.
Ich dachte an Helga. Sie hätte heute Pfannkuchen gebacken und einen Stapel auf den Tisch gestellt, genau hier. Sie hätte jeden gefragt, ob er schon gefrühstückt hat, und niemand hätte nein sagen dürfen.
Sie war gut darin gewesen, Menschen dazu zu bringen zu bleiben.
Ich bin gut darin geworden, Menschen gehen zu sehen.
„Opa?“, fragte plötzlich eine vorsichtige Stimme.
Ich hob den Kopf.
Ein Mädchen, vielleicht zwölf, stand auf der Schwelle zwischen Küche und Wohnzimmer. Dunkler Pferdeschwanz, Sommersprossen, eine zu große Jeansjacke, in deren Ärmel sie fast verschwand.
„Gehört das hier Ihnen?“, fragte sie und deutete irgendwie auf alles.
Ich sah sie an. „Es gehörte“, verbesserte ich leise. „Jetzt gehört es der Zeit.“
Sie runzelte die Stirn.
„Meine Mutter sagt, wir brauchen einen Esstisch“, erklärte sie dann. „Unser alter ist kaputt. Die Beine wackeln. Und… na ja… vielleicht dieser hier?“
Ich musste lächeln, obwohl es wehtat.
„Deine Mutter weiß, dass er ‚zu klobig‘ ist?“, fragte ich.
Das Mädchen grinste schief. „Meine Mutter mag klobig. Sie sagt, stabile Sachen geben einem mehr Ruhe im Kopf.“
Da stand sie: eine Zwölfjährige, die etwas verstanden hatte, das selbst viele Erwachsene vergessen haben.
„Hol doch deine Mutter mal her“, sagte ich. „Dann reden wir mit dem Tisch.“
Sie lief davon, und ich hörte ihre Schritte über den Flur.
Während ich wartete, wanderte mein Blick über die Dinge um mich herum.
Die Stehlampe im Eck mit dem vergilbten Schirm, unter der Helga abends gestrickt hat.
Der Sessel, aus dem ich einmal beim Fußballschauen aufgesprungen bin und mir dabei fast das Knie verrenkt hätte, als Deutschland im Elfmeterschießen weiterkam.
Der Wandkalender, der immer noch auf dem Monat hängt, in dem sie ins Krankenhaus gegangen ist.
Man sagt, man soll loslassen.
Niemand sagt einem, wie sich das anfühlt, wenn loslassen bedeutet, dass andere aussuchen, was von einem bleibt.
Das Mädchen kam zurück, diesmal mit ihrer Mutter.
Eine Frau in den Vierzigern, müde Augen, aber ein wacher Blick. Sie strich mit der Hand über die Tischplatte, langsam, als würde sie eine Narbe ertasten.
„Der ist schön“, sagte sie. Einfach so. Ohne Aber. Ohne „zu“.
Ich konnte das Wort kaum glauben.
Schön.
„Er ist alt“, murmelte sie dann, mehr zu sich selbst. „Aber stabil. Und… warm irgendwie.“
Warm. Helga hätte gelacht, wenn sie das gehört hätte. Sie hat immer gesagt, Holz speichert Erinnerungen wie eine Heizung.
„Wie viele Leute haben hier gesessen?“, fragte das Mädchen.
Ich atmete tief durch.
„So viele, dass ich sie nicht mehr zählen kann“, sagte ich. „Meine Eltern, als sie noch lebten. Helga, natürlich. Unsere Freunde. Die Kollegen vom Werk. Studenten, die wir bei uns aufgenommen haben, als die Mieten hier explodiert sind. Und… unsere Tochter, wenn sie mal wieder aus Schweden zu Besuch war.“
„Schweden“, wiederholte das Mädchen ehrfürchtig, als wäre es ein Planet.
Die Mutter sah mich an. „Und jetzt… müssen Sie weg?“
Ich nickte.
„Betreutes Wohnen“, erklärte ich. „Ein Zimmer. Klein, praktisch, mit Fahrstuhl. Mehr braucht man ja nicht, sagen sie.“
Ich lächelte, um den Satz leichter zu machen. Erfolglos.
„Nehmen Sie was mit?“, fragte die Frau.
„Einige Bücher. Ein Foto. Ein paar Kleinigkeiten.“ Ich sah wieder auf den Tisch. „Der hier passt nicht durch die Tür. Weder in der Breite noch in die Zeit, die mir noch bleibt.“
Es wurde still. Durch das offene Fenster drang der Lärm der Straße: eine knatternde Maschine, das entfernte Bellen eines Hundes, jemand, der lachte.
„Wir nehmen ihn“, sagte die Frau plötzlich. „Wenn der Preis…“
Ich winkte ab.
„Zahlen Sie, was Sie können“, sagte ich. „Der Rest ist… Trinkgeld für die Geschichten, die Sie hier noch erleben werden.“
Das Mädchen strahlte.
„Dann feiern wir Weihnachten hier“, sagte sie. „Mit Kerzen. Und Plätzchen. Und…“ Sie stockte. „Haben Sie hier auch Weihnachten gefeiert?“
Ich sah das Gespenst eines Tannendufts, fühlte den Stich in der Brust, als wollte sich ein altes Lied in mir den Weg nach draußen bahnen.
„Jedes Jahr“, sagte ich. „Helga hat immer übertrieben. Drei Sorten Kartoffeln, fünf Sorten Plätzchen. Und sie hat jedem Gast eine Mandarine auf den Teller gelegt. Auch als die schon längst keine Kostbarkeit mehr waren.“
Das Mädchen hörte zu, als würde sie sich jede Szene merken wollen.
„Können Sie… uns vielleicht mal erzählen?“, fragte sie leise. „Wie das früher war? Also… so richtig?“
Die Mutter sah sie überrascht an, schwieg dann aber.
Ich spürte, wie etwas in mir aufatmete.
„Wenn ihr den Tisch abholt“, sagte ich, „komme ich noch einmal runter, bevor ich ins Heim gehe. Dann erzähle ich euch von dem Weihnachten, an dem der Baum umgefallen ist. Und von dem Abend, an dem wir an diesem Tisch beschlossen haben, dass wir uns trennen und es dann doch nicht getan haben.“
Die Mutter nickte. „Abgemacht.“
Frau Kramer tauchte neben uns auf, mit einem Klemmbrett in der Hand.
„Also“, sagte sie geschäftlich, „der Tisch geht dann an Familie…?“
„Schrader“, sagte die Frau. „Wir wohnen zwei Straßen weiter.“
Zwei Straßen weiter.
Mein Tisch würde nicht verschwinden. Er würde nur umziehen. Wie ich.
Während die Formalitäten geklärt wurden, setzte ich mich wieder.
Die Menschen um mich herum wurden plötzlich weniger bedrohlich. Manche kauften nur, weil es günstig war, natürlich. Aber einige blieben kurz stehen, stellten Fragen, hörten zu, wenn ich eine Jahreszahl einwarf oder einen Namen.
„Ach, Sie haben hier schon gewohnt, als das Neubaugebiet noch gar nicht stand?“
„Sie sind im Werk gewesen? Mein Opa auch!“
Es waren nur Splitter von Interesse, keine großen Gespräche. Aber Splitter können Licht fangen.
Gegen Mittag klingelte mein Handy.
„Papa?“, sagte die Stimme meiner Tochter. „Wie läuft es?“
Ich sah mich um. Auf den halb leeren Schrank, auf die schon abmontierten Gardinenstangen, auf den Teppich mit den hellen Rechtecken dort, wo früher Möbel gestanden hatten.
„Es läuft“, antwortete ich. „Sie nehmen mir die Sachen ab.“
„Tut es sehr weh?“
Ich dachte an den jungen Mann, der „zu klobig“ gesagt hatte. An die Studentin mit den Büchern. An das Mädchen mit den Sommersprossen.
„Es sticht“, sagte ich. „Aber nicht überall. Und weißt du was? Der Eichenesstisch zieht zu einer Familie. Mit einem Mädchen, das meine Geschichten hören will.“
Meine Tochter schwieg einen Moment.
„Dann haben wir alles richtig gemacht“, sagte sie. „Dann lebt ihr weiter. Du und Mama. In einem anderen Haus.“
Ihr „ihr“ tat gut. Helga und ich, als wären wir immer noch eine Einheit.
Als der Nachmittag kam, hatte die Wohnung Lücken wie ein Zahn, dem die Füllungen fehlen.
Der Fernseher war weg. Der Sessel. Einige Regale.
Nur der Tisch blieb noch, als würde er darauf warten, dass ich mich verabschiede.
Ich legte die Handfläche auf das Holz.
Man sagt, Dinge seien nur Dinge.
Vielleicht stimmt das.
Weiter zu 🐾 Teil 3 ⏬⏬






