Wenn Liebe bleibt, während die Erinnerung schwindet und zwei Herzen neu lernen müssen zu tragen

Wer glaubt, die Geschichte mit dem kleinen silbernen Anhänger sei zu Ende, hat noch nie erlebt, wie lang ein gemeinsamer Abschied wirklich dauern kann.

Denn der Tag nach unserem 45. Hochzeitstag war kein Happy End, sondern einfach nur: Mittwoch.

Am Mittwochmorgen nannte Franz mich wieder „Clara“.

Ganz beiläufig, als ich ihm die Kompressionsstrümpfe überzog.

„Danke, Clara“, murmelte er, ohne mich anzusehen.

Ich spürte den Stich, aber ich war nicht überrascht.

Die Klarheit des Vortags hatte sich über Nacht wieder aufgelöst wie Nebel, den die Sonne nicht halten konnte.

Es tat weh, aber es war ein Schmerz, den ich schon kannte.

Ich stand in der Küche, das Samtetui noch auf der Fensterbank, und rührte mechanisch den Haferbrei.

Der Anhänger lag daneben, fing das matte Licht des Vormittags ein.

Ein kleines Stück Silber als Beweis, dass er mich irgendwo da drinnen noch kannte.

Das Telefon klingelte.

Ich wusste schon, wer es war, bevor ich abhob.

„Pflegebüro Müller, guten Tag, hier ist Schneider“, sagte die Stimme, die immer klingt, als hätte sie zu viele Schicksale auf dem Schreibtisch.

„Frau Dorn, ich wollte noch einmal an unser Gespräch neulich erinnern“, begann er.

„Die Situation bei Ihnen… wir müssen über Entlastung sprechen. Tagespflege, Kurzzeitpflege, vielleicht perspektivisch ein Heim.“

Er sprach, als würde er mir eine Produktpalette vorstellen.

Ich sah durch das Fenster auf die Linde, deren Krone sich im Wind wiegte.

„Wir kommen zurecht“, sagte ich wieder.

Meine Worte schmeckten inzwischen schal, wie zu oft aufgebrühter Tee.

„Sie sagen das jedes Mal“, erwiderte er leise.

„Darf ich Ihnen eine Frage stellen, ganz ehrlich, von Mensch zu Mensch?“

Ich schwieg, und das war wohl Antwort genug.

„Wann haben Sie das letzte Mal etwas nur für sich getan?“, fragte er.

Nicht als Floskel, sondern als ernst gemeinte Frage.

Ich hatte eine Antwort im Kopf: 2009, Ostsee, drei Tage mit einer Freundin. Vor der Diagnose.

„Ich kenne Ihre Geschichte nicht“, fuhr er fort.

„Aber ich weiß, dass pflegende Angehörige irgendwann an Grenzen kommen. Und manche merken es erst, wenn sie selbst ins Krankenhaus müssen.“

Seine Stimme war nicht mehr neutral, sondern müde und besorgt.

In mir stieg Wut hoch.

Nicht auf ihn. Auf seine Wahrheit.

„Ich kann ihn doch nicht einfach irgendwo abgeben wie eine alte Kommode“, sagte ich schärfer als beabsichtigt.

Er schwieg einen Moment.

„Niemand sagt, dass Sie ihn abgeben sollen, Frau Dorn“, antwortete er ruhig.

„Aber Sie müssen ihn auch nicht alleine tragen.“

Den Rest des Tages sprach ich kaum.

Ich tat, was getan werden musste: Medikamente sortieren, Essen kochen, anziehen, waschen, beruhigen.

Der Körper arbeitet weiter, auch wenn der Kopf an der Kante eines Abgrunds steht.

Am Abend kam eine Nachricht von Daniel.

Er schickte ein Foto seiner Tochter, unserer Enkelin, wie sie mit Zahnlücke vor einem selbstgemalten Regenbogen stand.

Darunter schrieb er: „Mama, können wir am Wochenende telefonieren? Nur wir zwei?“

Ich saß auf dem Sofa, Franz schlief schon im Sessel.

Die Lampe über uns flackerte, wie sie es immer tat, wenn die Glühbirne bald den Geist aufgab.

Ich schrieb: „Ja, gern“, und legte das Handy beiseite.

In der Nacht lag ich wach.

Ich hörte Franz atmen, dieses unregelmäßige, leise Pfeifen, das mich inzwischen mehr beruhigt als jede Uhr.

Solange er atmet, dachte ich, bin ich noch gebraucht.

Doch ein anderer Gedanke drängte sich dazu.

Was, wenn gebraucht werden nicht das einzige ist, wofür ich noch lebe?

Und durfte ich diese Frage überhaupt stellen, ohne mich zu schämen?

Am Samstag fuhr Daniel tatsächlich herunter.

Er stand plötzlich in der Tür mit einer Reisetasche, blass um die Augen, ein bisschen älter als beim letzten Besuch.

„Ich bleibe über Nacht“, sagte er, bevor ich fragen konnte.

Franz saß im Wohnzimmer und sah fern, ohne wirklich zuzusehen.

Daniel ging zu ihm, hockte sich hin, lächelte. „Hallo, Papa, ich bin’s, Daniel.“

Franz nickte höflich. „Ja, natürlich. Wegen der Heizung.“

Diesmal brach meinem Sohn nicht nur das Herz, man sah, wie etwas in ihm aufgab.

Später, in der Küche, stand er am Spülbecken und drehte das Wasser an und aus, als müsste er sich beschäftigen.

„Mama“, begann er, „das geht so nicht weiter.“

„Es geht seit Jahren so weiter“, entgegnete ich.

Ich trocknete Tassen, die schon trocken waren.

Alles in mir war Abwehr.

„Du wirst dabei kaputtgehen“, sagte er leise.

„Ich sehe es dir an. Deine Hände zittern beim Brotschneiden. Du vergisst selbst Dinge. Du… du bist nicht unverwundbar.“

„Ich habe deinem Vater versprochen, zu bleiben“, flüsterte ich.

Es war das erste Mal, dass ich es laut sagte: nicht nur vor ihm, sondern vor mir.

„In guten wie in schlechten Zeiten“, fügte ich hinzu, obwohl der Satz wie ein Klischee klang.

Daniel sah mich lange an.

„Glaubst du, Papa hätte gewollt, dass du dich selbst aufgibst?“, fragte er schließlich.

„Der Mann, der mir beigebracht hat, wie man Fahrrad fährt, hätte er gewollt, dass du nicht mal mehr Zeit für einen Spaziergang hast?“

Ich wollte antworten.

Stattdessen setzte ich mich auf den Küchenstuhl, weil meine Knie weich wurden.

„Wenn ich ihn in ein Heim gebe, wird er denken, ich hätte ihn abgeschoben“, brachte ich hervor.

Daniel schüttelte den Kopf.

„Vielleicht denkt er es. Vielleicht denkt er auch, er sei auf einer Dienstreise oder im Urlaub“, sagte er.

„Aber du weißt es. Und du weißt auch, dass ein Heim nicht das Ende der Liebe ist.“

Am Abend gingen wir zu zweit noch einmal ins Wohnzimmer.

Franz war wieder wacher, seine Augen verfolgten die Bewegungen im Raum.

Ich setzte mich neben ihn, nahm seine Hand.

„Franz“, sagte ich sanft, „Daniel und ich überlegen, ob du vielleicht ein paar Tage zur Erholung in eine Einrichtung gehst. So etwas wie Urlaub.“

Mir stockte die Stimme bei dem Wort. Urlaub. Als wäre es ein Geschenk.

Er sah mich an, blinzelte.

„Bin ich krank?“, fragte er plötzlich.

So direkt hatte er das lange nicht mehr gesagt.

Ich schluckte. „Ein bisschen, ja.“

Er dachte nach, oder tat zumindest so.

„Wenn ich krank bin, musst du dich um mich kümmern“, murmelte er.

Dann sah er mich an, und für einen Moment glaubte ich, ein Aufblitzen von Verständnis zu sehen. „Aber du siehst müde aus, Grete.“

Mein Name.

Nicht Clara. Nicht „Fräulein“.

Grete.

Ich lächelte unter Tränen.

„Ja, ich bin müde“, gab ich zu.

Die Wahrheit stand zwischen uns wie ein dritter Mensch.

Er drehte den Kopf zur Seite, als wolle er sich die Linde vor dem Fenster ins Gedächtnis brennen.

„Dann mach Pause“, sagte er langsam.

„Früher im Werk haben wir auch Pause gemacht, wenn wir nicht mehr konnten. Sonst… geht alles kaputt.“

Vielleicht legte mein Gehirn ihm die Worte zurecht.

Vielleicht war es nur ein zufälliges Durcheinander alter Sätze.

Aber in diesem Moment fühlte es sich an wie ein Segen.

In den nächsten Tagen füllte ich Formulare aus.

Ich telefonierte mit dem Pflegebüro, mit der Krankenkasse, mit einer Einrichtung in der Nachbarstadt, die „Kurzzeitpflege“ anbot.

Jedes Telefonat klang, als ginge es um Logistik. In Wahrheit ging es um Schuld.

Nachts lag ich wach und stellte mir vor, wie Franz in einem fremden Zimmer liegen würde.

Würde er nach mir rufen? Würde er mich vergessen? Oder würde ich diejenige sein, die zum ersten Mal seit Jahren tief schlief und deswegen Schuldgefühle bekam?

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