Ich fand Hannahs Wunschzettel tief im Müll – zerfetzt. Als ich die Teile zusammensetzte, erstarrte ich: Es war kein Wunsch nach Spielzeug, es war eine Warnung.
Es war fünf Tage vor Heiligabend, und Berlin zeigte sich von seiner unbarmherzigsten Seite. Draußen peitschte ein eisiger Wind grauen Schneematsch gegen die Fensterscheiben unseres Altbaus.
Drinnen kämpfte ich mit dem Chaos. Als Alleinerziehender war die Vorweihnachtszeit kein Fest der Liebe, sondern ein Marathon gegen die Zeit und das Bankkonto.
Hannah, meine Siebenjährige, war in der Schule. Ich nutzte die Stille, um ihr Zimmer aufzuräumen. Überall lagen Buntstifte und Socken. Als ich mich bückte, um den Papierkorb zu leeren, fiel er um. Der Inhalt ergoss sich über den Teppich.
Zwischen Bonbonpapieren und alten Hausaufgaben leuchtete etwas Rotes hervor. Ein Umschlag.
Ich erkannte ihn sofort. Es war der Brief an den Weihnachtsmann, den Hannah gestern Abend mit so viel Eifer und Geheimniskrämerei geschrieben hatte. Aber er war nicht auf dem Fensterbrett, wo er hingehörte. Er war zerfetzt. In winzig kleine Schnipsel gerissen und ganz unten im Müll versteckt, als wollte sie Beweise vernichten.
Ein kaltes Gefühl kroch meinen Nacken hoch. Warum tat sie das? Hatte sie in der Schule gehört, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt? Oder hatte ich sie enttäuscht? Gestern beim Abendbrot hatte ich genervt auf die Heizkostenabrechnung gestarrt und gemurmelt, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen. Hatte sie das gehört? Dachte sie, sie dürfe sich nichts wünschen?
Mein Herz zog sich zusammen. Neugierig und mit einem seltsamen Kloß im Hals sammelte ich die Schnipsel auf. Ich holte eine Rolle Tesafilm, setzte mich an ihren kleinen Schreibtisch und begann, das Puzzle zusammenzulegen.
Die ersten Worte, die ich entziffern konnte, ließen meinen Atem stocken. „Lieber Weihnachtsmann… bitte komm nicht…“
Ich klebte weiter, meine Hände zitterten leicht. „…er ist böse…“ „…er schreit immer so laut.“
Das Blut rauschte in meinen Ohren. Wer war böse? Wer schrie? Ein Lehrer? Ein Mitschüler? Oder meinte sie mich? War ich in letzter Zeit zu streng gewesen?
Dann fand ich das nächste Stück: „Der Mann unten.“
Sofort schoss mir ein Bild in den Kopf: Herr Weber.
Herr Weber wohnte im Erdgeschoss. Er war das, was man in Deutschland einen „Drachen“ nennt. Ein verbitterter, alter Mann, der den ganzen Tag hinter seiner Gardine lauerte.
Wenn Hannah im Treppenhaus lachte, riss er die Tür auf und zischte um Ruhe. Wenn ich den Müll nicht perfekt trennte, fand ich einen wütenden Zettel an meinem Briefkasten. Letzte Woche erst hatte er mit dem Besenstiel gegen seine Decke – unseren Fußboden – gehämmert, nur weil Hannah getanzt hatte.
Wut stieg in mir auf. Heiße, beschützende Wut. Hatte dieser alte Griesgram meiner Tochter so viel Angst eingejagt, dass sie sich nicht einmal traute, Weihnachten zu feiern? Hatte er sie im Treppenhaus abgefangen?
„Er hat den Hund weggemacht…“, las ich auf dem nächsten Schnipsel.
Das reichte. Ich sprang auf. Ich würde runtergehen. Ich würde gegen seine Tür hämmern und ihm sagen, dass er sich von meiner Tochter fernhalten soll. Scheiß auf die Nachbarschaft, scheiß auf die Höflichkeit. Niemand droht meinem Kind.
Ich griff nach dem letzten Papierstück, das noch im Müll klebte. Es war die Rückseite des Briefes, vollgekritzelt mit einer Zeichnung. Ich glättete es und klebte es an seinen Platz, um den Satz zu beenden.
Als ich den vollständigen Text las, blieb ich mitten in der Bewegung stehen. Die Wut verdampfte und hinterließ eine leere, schmerzhafte Stille im Raum.
Der Brief lautete nicht, wie ich dachte.
„Lieber Weihnachtsmann, bitte komm dieses Jahr nicht zu mir. Ich habe gesehen, dass Papa mir schon die Puppe gekauft hat (er hat sie im Schrank versteckt). Ich brauche nichts mehr. Bitte nimm mein Geschenk und geh zu dem Mann unten, Herrn Weber. Er ist sehr böse und schreit immer, aber Papa hat mal gesagt: ‘Leute schreien nur, wenn ihnen was weh tut.’ Gestern habe ich gesehen, wie er seinen alten Hund in die Mülltonne getan hat. Der Hund war tot. Herr Weber hat am Müllplatz so laut geweint, dass er geschrien hat. Er hat jetzt niemanden mehr. Er ist ganz allein. Bitte geh zu ihm, damit er nicht mehr so traurig ist. Vielleicht schreit er dann nicht mehr. Deine Hannah.“
Ich ließ mich langsam auf Hannahs kleinen Stuhl sinken. Die Tränen kamen ohne Vorwarnung.
Ich, der erwachsene Christoph, hatte in Herrn Weber nur den Feind gesehen. Den Störenfried. Den typischen deutschen Rentner, der nichts Besseres zu tun hat, als die Hausordnung zu überwachen.
Aber meine siebenjährige Tochter hatte genauer hingesehen. Sie hatte nicht den Lärm gehört, sondern den Schmerz. Während ich mich über seine Klopfzeichen ärgerte, trauerte er um seinen einzigen Begleiter, einen alten Dackel, der seit Jahren an seiner Seite gehumpelt war.
Die „Ruhestörung“, über die ich mich gestern aufgeregt hatte, war das Weinen eines einsamen Mannes gewesen, der seinen letzten Freund verloren hatte. Und Hannah hatte ihren Wunschzettel zerrissen, weil sie dachte, man dürfe den Weihnachtsmann nicht um zwei Dinge bitten, also opferte sie ihres für ihn.
Ich schämte mich. Ich schämte mich so sehr für meine Blindheit.
Als Hannah am Nachmittag nach Hause kam, sagte ich kein Wort über den Brief. Aber als es dunkel wurde, nahm ich sie an die Hand.
„Wir müssen noch etwas erledigen“, sagte ich.
Ich hatte die Puppe, die eigentlich für Heiligabend gedacht war, nicht eingepackt. Stattdessen hatten wir einen Korb gefüllt. Eine Flasche Rotwein, selbstgebackene Plätzchen, eine warme Decke und – das war Hannahs Idee – ein gerahmtes Foto von Herrn Webers Dackel, das ich einmal zufällig im Hof gemacht hatte.
Wir schlichen uns ins Erdgeschoss. Das Treppenhaus roch nach Bohnerwachs und Kälte. Vor Herrn Webers Tür war es dunkel. Kein Kranz, keine Lichterkette. Nur Stille.
Wir stellten den Korb auf die Fußmatte. Hannah legte eine Karte dazu. Darauf stand nur: „Vom Weihnachtsmann (und den Nachbarn von oben).“
„Jetzt klingeln!“, flüsterte ich.
Hannah drückte den Knopf. Wir rannten so schnell und leise wir konnten die Treppe hinauf in den ersten Stock und lugten durch das Geländer.
Unten öffnete sich die Tür. Ein Lichtstreifen fiel in den dunklen Flur. Herr Weber stand da, in einer ausgebeulten Strickjacke, das Gesicht grau und eingefallen. Er sah auf den Boden.
Er erstarrte.
Lange Zeit rührte er sich nicht. Dann bückte er sich langsam, als würden seine Knochen schmerzen, und hob den Korb auf. Er zog die Karte heraus. Ich sah, wie seine Schultern zu beben begannen. Er drückte das Foto seines Hundes an die Brust und sah nach oben, ins dunkle Treppenhaus. Er sah uns nicht, aber er hob leise die Hand zum Gruß.
Zum ersten Mal sah ich kein verkniffenes Gesicht. Ich sah ein Lächeln. Ein nasses, schmerzhaftes, aber echtes Lächeln.
Wir gingen leise zurück in unsere Wohnung. „Glaubst du, er freut sich?“, fragte Hannah. „Ja“, sagte ich und drückte sie fest an mich. „Ich glaube, das ist das beste Geschenk, das er je bekommen hat.“
In dieser Nacht lernte ich, dass die Kälte in unserer Gesellschaft nicht vom Wetter kommt. Sie kommt daher, dass wir verlernen, hinter die Fassade zu schauen. Und manchmal braucht es die Augen eines Kindes, um uns daran zu erinnern, dass die lautesten Schreie oft die stillsten Hilferufe sind.
Hannah bekam ihre Puppe trotzdem. Aber das Leuchten in ihren Augen, als Herr Weber am nächsten Morgen freundlich grüßte, war heller als jedes Geschenk unter dem Baum.
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