Wie der zerrissene Wunschzettel meiner Tochter das einsame Herz unseres verbitterten Nachbarn für immer heilte

Die Stille nach Weihnachten ist oft lauter als der Lärm davor. Man sagt, zwischen den Jahren hält die Welt den Atem an, aber in unserem hellhörigen Berliner Altbau bedeutete Stille meistens nichts Gutes.

Es war Silvester, genau eine Woche, nachdem Hannah und ich den Korb vor die Tür des „Drachen“ gestellt hatten. Die Stadt bereitete sich auf den Kriegszustand vor, den Berlin liebevoll „Jahreswechsel“ nennt. Schon am Nachmittag hallten die ersten Böller durch den Hinterhof, dumpfe Schläge, die die alten Doppelfenster zum Klirren brachten.

Ich stand in der Küche und schnitt Gemüse für unser kleines Raclette, während Hannah am Fenster klebte. Normalerweise liebte sie das bunte Treiben, die Vorfreude auf die Raketen. Doch heute war sie ruhig. Zu ruhig.

„Papa?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen. Ihr Atem hatte einen kleinen Nebelfleck auf die Scheibe gehaucht. „Ja, Mäuschen?“ „Herr Weber hat heute noch nicht das Licht angemacht.“

Ich ließ das Messer sinken. Seit jenem Abend vor sieben Tagen hatte sich etwas verändert. Die unsichtbare Mauer zwischen dem Erdgeschoss und dem zweiten Stock war brüchig geworden. Wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, zischte er nicht mehr. Er nickte. Einmal hatte er sogar Hannahs Mütze aufgehoben, die ihr runtergefallen war, und sie ihr mit zitternden Händen gereicht. Seine Augen waren immer noch traurig, aber es war nicht mehr diese kalte, feindselige Trauer. Es war eine weiche, verletzliche Trauer.

Aber Hannah hatte recht. Unten war es dunkel. Und Herr Weber war ein Gewohnheitstier. Punkt 16 Uhr ging normalerweise seine Stehlampe an. Jetzt war es 17 Uhr.

„Vielleicht schläft er“, versuchte ich sie zu beruhigen, obwohl mir selbst ein ungutes Gefühl in den Magen kroch. „Bei dem Krach?“ Ein besonders lauter Knaller explodierte im Hof, gefolgt vom johlenden Lachen einiger Teenager. Hannah zuckte zusammen. „Sein Hund hatte immer Angst vor Böllern. Er hat mir mal erzählt, dass Waldi sich immer im Badezimmer versteckt hat.“

Sie drehte sich zu mir um. Ihre großen Augen waren voller Sorge. „Er ist jetzt ganz allein da unten, Papa. Und er hat Angst.“

Ich seufzte, wischte mir die Hände am Geschirrtuch ab und wusste, dass unser gemütlicher Abend warten musste. Hannah hatte diese Gabe – diesen moralischen Kompass, der so unerschütterlich nach Norden zeigte, dass man sich schäbig fühlte, wenn man ihm nicht folgte.

„Okay“, sagte ich. „Wir gehen mal ‘Hallo’ sagen. Vielleicht braucht er ja etwas Zucker oder Milch. Ein Vorwand, okay?“ Hannah strahlte.

Das Treppenhaus war eiskalt. Der Geruch von Schwefel und verbranntem Schwarzpulver kroch bereits durch die Ritzen der Haustür. Wir stiegen die Stufen hinab. Je näher wir dem Erdgeschoss kamen, desto beklemmender wurde die Stille.

Vor seiner Tür blieben wir stehen. Kein Geräusch. Kein Fernseher, kein Radio, kein Schlurfen. Ich hob die Hand zum Klopfen, doch da hörte ich es. Ein Geräusch. Aber es war nicht das Geräusch, das ich erwartet hatte. Es war kein Stöhnen eines gestürzten Mannes. Es war ein Winseln. Ein hohes, panisches Fiepen. Und dann eine Stimme, brüchig und leise: „Ist ja gut… pssst… ist ja gut.“

Ich tauschte einen Blick mit Hannah. Sie riss die Augen auf. „Hast du das gehört?“ Bevor ich antworten konnte, drückte sie die Türklinke herunter. Sie war nicht abgeschlossen. Das allein war schon ein Alarmzeichen bei einem Mann, der früher seine Privatsphäre verteidigte wie eine Festung.

„Herr Weber?“, rief ich vorsichtig in den dunklen Flur. „Wir sind’s, Christoph und Hannah von oben.“

Der Flur roch nach altem Papier und Lavendel, ein Geruch aus einer vergangenen Zeit. Durch die offene Wohnzimmertür fiel das flackernde Licht der Straßenlaterne herein. Und da saßen sie.

Herr Weber saß auf dem Boden. Nicht in seinem Sessel, sondern auf dem harten Parkett, den Rücken gegen die Heizung gelehnt. Er trug seine alte Strickjacke, die ihm zwei Nummern zu groß geworden schien. Aber er war nicht allein. In seinem Schoß, halb unter der Strickjacke vergraben, zitterte ein Bündel aus schmutzigem, verfilztem Fell.

Wir blieben wie angewurzelt stehen. Herr Weber hob den Kopf. Sein Gesicht war nass von Tränen, und er sah so erschöpft aus, als hätte er hundert Jahre gelebt. „Die Tür…“, krächzte er. „Ich habe sie aufgelassen… er… er rannte einfach rein.“

Hannah schlich sich langsam näher, als würde sie sich einem scheuen Reh nähern. „Wer, Herr Weber?“

Der alte Mann blickte auf das Bündel in seinem Schoß. Es war ein Hund. Kein Dackel wie sein Waldi. Es war eine Promenadenmischung, struppig, mit einem Ohr, das halb abgerissen wirkte, und Augen, die vor purer Panik weit aufgerissen waren. Er war mager, man konnte jede Rippe unter dem dreckigen Fell sehen.

„Die Knaller“, flüsterte Weber. „Er muss draußen gewesen sein. Er hat gekratzt. Wie verrückt. Ich dachte… ich dachte, es wäre…“ Er stockte. Er musste es nicht aussprechen. Er hatte für eine Sekunde gehofft, sein toter Hund wäre zurückgekehrt. „Er hat gezittert wie Espenlaub“, fuhr Weber fort, seine Hand streichelte mechanisch, fast unbewusst über den Kopf des fremden Hundes. „Ich konnte ihn nicht draußen lassen. Nicht bei diesem Krieg.“

Der Hund zuckte bei einem neuen Knall von draußen zusammen und drückte sich noch fester an die Brust des alten Mannes. Und in diesem Moment sah ich es: Die Symbiose aus zwei gebrochenen Seelen. Der Mann, der seinen Beschützerinstinkt verloren hatte, und der Hund, der seinen Beschützer verloren hatte.

„Er blutet“, sagte Hannah leise und zeigte auf die Pfote des Hundes. Ich kniete mich neben die beiden. „Darf ich mal sehen?“ Herr Weber nickte stumm, hielt den Hund aber fest, als wollte ich ihn ihm wegnehmen. Ich untersuchte die Pfote vorsichtig. „Nur ein Schnitt, wahrscheinlich von einer Scherbe. Aber er ist völlig unterkühlt und dehydriert.“

„Wir müssen ihn ins Tierheim bringen“, sagte ich vernünftig. „Oder zum tierärztlichen Notdienst.“

Sofort veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Herr Weber verkrampfte sich. Der Hund spürte die Anspannung und winselte lauter. „Nein“, sagte Weber scharf. Dann wurde seine Stimme wieder leise, fast flehend. „Nicht heute Nacht. Hören Sie doch… draußen brennt die Luft. Er stirbt vor Angst, wenn wir ihn jetzt rauszerren.“

„Aber Herr Weber“, wandte ich ein, „Sie können sich nicht um ihn kümmern. Sie haben gesagt…“ „Ich weiß, was ich gesagt habe!“, unterbrach er mich. Er sah mich an, und in seinen Augen loderte zum ersten Mal seit langem wieder ein Feuer. Nicht aus Wut auf mich, sondern aus Entschlossenheit. „Kein Hund mehr. Nie wieder. Der Schmerz, wenn sie gehen… das überlebe ich nicht noch einmal.“ Er sah auf den Hund hinab, der ihm jetzt dankbar die raue Hand leckte. „Aber ich kann ihn nicht wegwerfen. Nicht heute.“

Hannah setzte sich neben ihn auf den Boden. Einfach so. Sie legte ihre kleine Hand auf Herrn Webers Knie. „Wir helfen dir“, sagte sie bestimmt. „Wir bleiben hier. Wir machen eine Festung.“

Und so verbrachten wir Silvester nicht mit Raclette und Bleigießen vor dem Fernseher. Wir verbrachten es auf dem Wohnzimmerboden von Herrn Weber. Ich holte Verbandszeug und Desinfektionsmittel von oben. Herr Weber, der plötzlich eine erstaunliche Energie entwickelte, kramte in alten Kisten. Er fand eine verstaubte Decke – himmelblau, die Lieblingsdecke seines alten Dackels. Er fand Näpfe, die er eigentlich wegwerfen wollte, aber nie übers Herz gebracht hatte.

Während draußen die Welt explodierte, bauten wir drinnen eine Höhle. Wir schoben den schweren Eichentisch beiseite, legten Kissen aus und machten es uns bequem. Ich reinigte die Pfote des Hundes. Er ließ es geschehen, fixierte aber die ganze Zeit Herrn Weber, als wäre der alte Mann sein einziger Anker in diesem Sturm. Wir nannten ihn „Lucky“. Ein kitschiger Name, sicher.

Aber als Hannah fragte: „Wie soll er heißen?“, sagte Herr Weber leise: „Er hatte Glück, dass die Tür offen war. Und ich hatte Glück, dass ich nicht taub bin.“ Also Lucky.

Im Laufe der Stunden, während wir Kekse aßen und Tee aus feinem Porzellan tranken, begann Herr Weber zu erzählen. Nicht über Lärm oder Mülltrennung. Er erzählte von seinem Leben. Er erzählte von seiner Frau, die vor zehn Jahren gestorben war. Von seinem Sohn, der nach Amerika gezogen war und sich nur noch zu Weihnachten meldete – per E-Mail.

„Man wird unsichtbar“, sagte er, während er Lucky hinter dem Ohr kraulte. Der Hund war inzwischen eingeschlafen, den Kopf schwer auf Webers Oberschenkel. „Das ist das Schlimmste am Altwerden. Nicht die Schmerzen im Rücken. Sondern das Gefühl, dass man verschwindet. Man steht am Fenster und sieht das Leben vorbeiziehen, und niemand schaut zurück.“

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