Wie der zerrissene Wunschzettel meiner Tochter das einsame Herz unseres verbitterten Nachbarn für immer heilte

Er blickte mich an, und ich schämte mich erneut für all die Male, die ich genervt war, wenn er hinter der Gardine stand. Er hatte nicht spioniert. Er hatte nur nach einer Verbindung gesucht.

„Und dann“, fuhr er fort, „war da Waldi. Er brauchte mich. Er musste raus, er musste fressen. Er hat mich gezwungen, aufzustehen. Als er starb… da gab es keinen Grund mehr, morgens die Decke wegzuschlagen.“

Hannah lehnte an seiner Schulter. Sie war fast eingeschlafen. „Jetzt hast du Lucky“, murmelte sie. Herr Weber schüttelte den Kopf, aber seine Hand hörte nicht auf, den Hund zu streicheln. „Nur für heute Nacht, Kleines. Morgen suchen wir seinen Besitzer. Irgendwo vermisst ihn sicher jemand.“

Ich sah den Hund an. Er hatte kein Halsband. Er war abgemagert. Seine Krallen waren zu lang. Niemand vermisste diesen Hund. Dieser Hund war schon lange unterwegs gewesen. Oder er kam aus einem Zuhause, das diesen Namen nicht verdiente. Ich wusste es. Und ich sah in Herrn Webers Augen, dass er es auch wusste.

Um Mitternacht erreichte der Lärm seinen Höhepunkt. Lucky wachte auf und begann zu zittern, ein Ganzkörperbeben, das herzzerreißend war. Herr Weber beugte sich über ihn. Er summte. Eine alte Melodie, rau und schief, aber voller Zärtlichkeit. Er schirmte den Körper des Hundes mit seinem eigenen ab, als könnte er die Schallwellen mit seinem bloßen Willen aufhalten.

Hannah nahm die andere Seite, hielt die Pfote. Und ich saß da und sah zu, wie drei Generationen – ein alter Mann, ein junger Vater und ein kleines Kind und ein streunender Hund gemeinsam dem Chaos trotzten.

Am nächsten Morgen, als die Straßen von rotem Böllermüll übersät waren und die Stadt in einem verkaterten Grau erwachte, gingen wir nach unten. Die Tür stand offen. Herr Weber war in der Küche. Er kochte Kaffee. Es roch nach Toast und Leben. Lucky lag auf der himmelblauen Decke in der Küche, genau dort, wo es am wärmsten war. Als wir reinkamen, wedelte er vorsichtig mit dem Schwanz.

„Ich habe beim Tierheim angerufen“, sagte Herr Weber, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme klang fest. Hannah hielt den Atem an. „Und?“ Er drehte sich um. In seiner Hand hielt er zwei Tassen Kakao für Hannah und mich. Er sah müde aus, aber die grauen Schatten in seinem Gesicht waren verschwunden. „Ich habe gesagt, ich habe einen Hund gefunden. Aber ich habe auch gesagt, dass ich mich als Pflegestelle anbiete. Bis sich der Besitzer meldet.“

Er zwinkerte Hannah zu. Ein echtes, verschmitztes Zwinkern. „Und wenn sich nach vier Wochen niemand meldet… nun ja. Dann muss der Bursche wohl hier bleiben. Er mag meine Hausschuhe. Er hat sie schon angekaut.“

Hannah quiekte auf und fiel ihm um den Hals. Herr Weber schwankte kurz, dann lachte er. Ein rostiges Lachen, das lange nicht benutzt worden war, aber wunderbar klang. „Aber eines sage ich euch“, brummte er und sah mich streng über Hannahs Schulter an – der alte Herr Weber blitzte kurz durch. „Wenn er bleibt, dann müsst ihr mir beim Gassigehen helfen. Meine Knie sind nicht mehr die besten.“

„Jeden Tag“, versprach ich. „Das ist ein Deal.“

Als ich später am Tag Hannah beobachtete, wie sie mit Lucky und Herrn Weber im Hof spielte – der alte Mann warf einen Ball, zwar nur zwei Meter weit, aber der Hund jagte ihm nach, als wäre es eine olympische Goldmedaille –, begriff ich etwas Wichtiges.

Wir suchen oft nach großen Wundern. Nach dem großen Gewinn, der großen Liebe, der großen Veränderung. Aber das Leben ändert sich meistens in den leisen Momenten. Wenn ein Kind einen Wunschzettel zerreißt. Wenn eine Tür in der Silvesternacht nicht abgeschlossen ist. Wenn ein alter Mann beschließt, dass sein Herz groß genug ist, um noch einmal zu brechen, nur um einem anderen Wesen die Angst zu nehmen.

Herr Weber war kein „Drache“ mehr. Er war Arthur. Unser Nachbar. Unser Freund. Und Lucky? Er hatte seinen Namen nicht bekommen, weil er gefunden wurde. Sondern weil er jemanden gefunden hatte, der genauso verloren war wie er.

In diesem Winter wurde es in unserem Haus nie wieder richtig kalt. Denn wir hatten gelernt, dass Wärme nicht von der Heizung kommt, sondern davon, dass man die Tür einen Spaltbreit offen lässt.

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