Heute Morgen, mit 55, hielt ich meine dritte Kündigung in der Hand und meinen Glauben an mich selbst.
Der Kaffee auf meinem Küchentisch in unserer Mietwohnung irgendwo in Nordrhein-Westfalen war längst kalt, die Heizung gluckerte, als wolle sie mir Gesellschaft leisten.
Vor mir lag der Brief, sachlich, fehlerfrei, aber gnadenlos. Kein Wort darin erwähnte, dass hinter der Personalnummer ein Mensch stand, der gehofft hatte, es dieses Mal bis zur Rente zu schaffen.
Mein Handy vibrierte, „Nathalie“ leuchtete auf. Ich starrte kurz auf den Bildschirm, als könnte ich durch Nicht-Reagieren auch die Realität wegdrücken, dann nahm ich ab.
„Na, Papa, alles gut?“, fragte meine Tochter, im Hintergrund sah ich einen verschwommenen Schreibtisch, ihren Laptop, die typische Berliner Altbauwand.
„Alles gut“, sagte ich. „Alles wie immer. Ich muss gleich zur Spätschicht.“
Als das Gespräch endete, blieb die Küche plötzlich still zurück. Ich legte das Handy neben den Brief und merkte, dass meine Hand ein wenig zitterte. Drei Kündigungen in fünfzehn Jahren, irgendwann fängt man an zu glauben, dass es nicht nur Pech ist.
Die erste traf mich mit vierzig, damals in einer großen Fabrik, in der Metall nach Öl roch und jeder seine Maschine kannte wie ein Familienmitglied. Wir standen in der Kantine, die Luft war schwer, als uns der Leiter erklärte, das Werk werde geschlossen, wirtschaftliche Gründe, globaler Druck. Ich hörte nur das Wort „Ende“.
Zu Hause kaufte ich auf dem Heimweg für Nathalie ein Stück Kuchen, um stark zu wirken. Ich erzählte ihr, ich sei jetzt „mehr zu Hause“, und sie freute sich ehrlich darüber, weil sie noch ein Kind war und keine Rechnungen kannte. Nach ein paar Monaten fand ich etwas Neues und redete mir ein, das Leben habe nur kurz gestolpert.
Die zweite Kündigung kam leiser, aber tiefer. Mitte vierzig wechselte ich in einen kleinen Betrieb, der Software und Lagerlösungen anbot. Ich besuchte Fortbildungen, saß abends über Unterlagen, um wenigstens einen Schritt mit der Zeit mitzuhalten. Eines Tages bat man mich in ein Büro, die Jalousien halb heruntergelassen, die Stimmen gedämpft.
„Es tut mir leid, Herr Keller“, sagte mein Vorgesetzter. „Wir müssen Personal abbauen, die Zahlen lassen uns keine Wahl.“
Ich nickte, als wäre es nur eine Information, dabei war es ein Schnitt quer durch mein Selbstbild.
Später saß ich auf meinem Balkon, hörte die Straßenbahn unten vorbeidonnern und sah in Fenster, hinter denen andere Menschen offenbar wussten, wo sie morgens hingehörten. Ich stand das erste Mal in der Schlange bei der Arbeitsagentur und spürte, wie mir das Wort „arbeitslos“ unter die Haut kroch.
Nach einigen schweren Jahren fand ich wieder Arbeit, diesmal im Lager eines mittelgroßen Betriebs. Es war körperlich anstrengend, aber ehrlich: Kisten, Paletten, Zettel, keine großen Begriffe. Ich mochte es, abends sagen zu können: „Ich habe etwas bewegt.“ Vielleicht mochte ich es auch, weil es mich von der Angst ablenkte, zum dritten Mal übrig zu bleiben.
Jetzt war es wieder passiert. Diesmal war es eine automatische Anlage, die meine Arbeit „effizienter“ machen sollte. Ich war plötzlich nicht mehr Teil des Systems, sondern eine Zahl in einer Kostenrechnung.
Es klopfte an der Tür. Ich fuhr zusammen, als hätte mich jemand bei einer verbotenen Handlung erwischt, dabei tat ich nichts, außer in meinem eigenen Leben zu sitzen.
„Herr Keller?“, rief eine brüchige Stimme.
Ich öffnete. Frau Schneider von gegenüber stand vor mir, klein, bestimmt über achtzig, mit einem Einkaufskorb, der viel zu schwer für sie war.
„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir den nach oben tragen? Die Kartoffeln sind heute wieder besonders schwer“, sagte sie und lächelte schief.
Ich nahm ihr den Korb ab und folgte ihr in die Wohnung, die nach Suppe und Bohnenkaffee roch. Es tat gut, etwas in der Hand zu haben, das Gewicht hatte und nicht aus Papier bestand.
„Sie sehen müde aus“, stellte sie fest, während sie die Schranktür öffnete.
„Lange Schicht“, sagte ich automatisch.
Sie drehte sich zu mir um, musterte mich.
„Ich kenne diesen Blick“, sagte sie leise. „Als mein Nähatelier geschlossen wurde, dachte ich auch, ich wäre nur noch Ballast.“
Ich schwieg, weil ich Angst hatte, dass meine Stimme brechen würde, wenn ich etwas sagte.
„Wissen Sie“, fuhr sie fort, „man kann einem Menschen seine Arbeit nehmen. Aber nur er selbst kann entscheiden, ob er deswegen weniger Mensch ist.“
Ihre Worte trafen mich unangenehm genau. Ich trug den Korb in den Keller zurück, aber der Satz blieb oben in meinem Kopf.
Zwei Tage später stand Nathalie plötzlich vor meiner Tür.
„Überraschung“, sagte sie und hielt eine Thermoskanne hoch. „Ich dachte, ich mache heute Homeoffice bei dir. Deine Küche hat die bessere Akustik.“
Wir saßen uns gegenüber, sie tippte konzentriert, ich rührte in einem Kaffee, der nicht mehr heiß war. Als sie sich nach einem Stift streckte, rutschte der Brief aus dem Zeitungsstapel.
„Was ist das?“, fragte sie.
Ich griff danach, aber sie war schneller. Ihre Augen flogen über die Zeilen, ihre Schultern sanken ein paar Millimeter.
„Du bist wieder gekündigt worden?“, fragte sie, diesmal ohne das „Na, Papa“ davor.
Ich atmete tief durch.
„Es klärt sich“, sagte ich. „Ich wollte dich nicht belasten. Du hast genug um die Ohren.“
Nathalie legte den Brief sorgfältig auf den Tisch.
„Nicht belasten?“, wiederholte sie. „Papa, ich bin erwachsen. Was mich wirklich belastet, ist, dass du mir nicht zutraust, die Wahrheit auszuhalten.“
Sie stand auf, lief ein paar Schritte zur Spüle, stützte sich ab und drehte sich dann wieder zu mir um.
„Du hast mir beigebracht, pünktlich zu sein, Verantwortung zu übernehmen, nicht wegzulaufen“, sagte sie. „Und jetzt läufst du selbst weg vor mir.“
Etwas in mir zog sich zusammen. Ich hatte Angst gehabt, sie würde mich für einen Versager halten, und stattdessen war sie verletzt, weil ich mich versteckte.
„Ich wollte nur, dass du stolz auf mich bist“, brachte ich hervor.
„Ich bin stolz auf dich, weil du mein Vater bist, nicht wegen deiner Lohnabrechnung“, antwortete sie. „Aber ich kann dir nicht helfen, wenn du so tust, als wäre alles gut.“
Am Abend erzählte sie mir von einem kleinen Begegnungszentrum für Seniorinnen und Senioren in unserer Nähe. Dort fehlte jemand, der Stühle stellt, Tee einschenkt, zuhört.
„Es ist kein Traumjob“, sagte sie. „Aber die brauchen jemanden, der bleibt, wenn andere gehen.“
Mein erster Reflex war Abwehr.
„Ich habe doch keine Ausbildung in dem Bereich“, murmelte ich. „Und ich weiß nicht, ob ich alten Menschen wirklich helfen kann.“
Ein paar Tage später stand wieder Frau Schneider vor der Tür, diesmal ohne Korb.
„Ich war gestern im Zentrum“, sagte sie. „Die suchen wirklich jemanden. Ich habe Ihnen schon ein bisschen Werbung gemacht.“
„Für mich?“, fragte ich erstaunt.
„Natürlich“, antwortete sie. „Sie haben mir jetzt jahrelang meine Kartoffeln in den dritten Stock getragen. Das ist mehr Qualifikation als manch einer auf dem Papier.“
Eine Woche später stand ich in einem hellen Raum mit großen Fenstern. Auf einem Tisch standen Tassen, auf einem anderen ein Teller mit Kuchen. Ich trug eine einfache Weste mit einem Namensschild: „Thomas“. Keine Funktion, keine Position, nur mein Vorname.
Eine ältere Dame mit weißen Locken setzte sich zu mir und erzählte zum dritten Mal, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Ich kannte die Pointe inzwischen, aber ich lachte trotzdem mit ihr, weil ihre Augen bei der Erinnerung leuchteten.
„Sie hören gut zu“, sagte sie zum Abschied. „Das ist heute selten.“
Auf dem Heimweg durch den Park war die Luft kalt, aber klar. Kinder spielten, ein Fahrrad quietschte, irgendwo schlug eine Kirchenglocke. Ich merkte, dass ich seit Stunden nicht mehr an die Kündigung gedacht hatte.
Zu Hause wartete Nathalie mit zwei belegten Brötchen am Küchentisch.
„Na?“, fragte sie.
Ich setzte mich ihr gegenüber, nahm mir Zeit mit der Antwort.
„Ich habe den ganzen Tag nichts produziert, nichts verpackt, nichts abgehakt“, sagte ich. „Ich war einfach nur da. Und irgendwie hat genau das jemand gebraucht.“
Sie schob mir einen Umschlag zu.
„Die Leiterin hat angerufen“, erklärte sie. „Sie würden dich gerne offiziell für ein paar Stunden die Woche einstellen.“
Später stand ich vor der Schublade, in der meine drei Kündigungen lagen. Ich legte das neue Schreiben – keine große Anstellung, kein großer Vertrag, aber ein Anfang – vorsichtig obendrauf. Dann schloss ich die Schublade und blieb einen Moment stehen.
Drei Mal hatte mir jemand auf Papier bestätigt, dass meine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird. Heute hatte mir zum ersten Mal jemand gesagt, dass meine Anwesenheit fehlt, wenn ich nicht da bin.
In einem Land, in dem Lebensläufe und Titel so viel zählen, brauchte ich drei Kündigungen, um zu verstehen: Mein Wert hängt nicht an einer Stellenbeschreibung, sondern daran, ob jemand aufatmet, wenn ich zur Tür hereinkomme.
Die Arbeit kann man mir nehmen. Die Entscheidung, trotzdem ein verlässlicher Mensch zu bleiben, gehört mir. Und vielleicht ist genau das der leise, unspektakuläre Mut, den unsere Zeit am dringendsten braucht.
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