Als die Stunde vorbei war, blieb eine eigenartige Ruhe im Raum. Nicht die Stille nach einem Pflichtprogramm, eher dieses Gefühl, dass man etwas gemeinsam getragen hatte, was allein zu schwer gewesen wäre.
Auf dem Rückweg sah ich durch die Fenster der Straßenbahn Menschen in Büros sitzen, hinter Bildschirmen, mit Headsets. Früher hätte ich gedacht: „Die haben es geschafft.“ Jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob sie sich auch manchmal unsichtbar fühlten.
Abends saßen Nathalie und ich wieder an meinem Küchentisch.
„Und?“, fragte sie mit vollem Mund. „Wie war die Runde?“
„Seltsam gut“, sagte ich. „Ich habe nichts produziert, kein einziges Paket verladen. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Leute erleichtert waren, dass jemand ausgesprochen hat, wie weh ein Arbeitszeugnis tun kann.“
Sie nickte.
„Und du?“, fragte sie. „Warst du erleichtert?“
Ich dachte kurz nach.
„Es war das erste Mal, dass ich vor anderen offen gesagt habe, dass ich drei Kündigungen bekommen habe“, gab ich zu. „Und niemand hat gezuckt. Es war… einfach eine Tatsache in einem Raum voller anderer Tatsachen.“
Ein paar Wochen später bekam ich wieder Post. Diesmal keinen brüchigen Umschlag mit Firmenlogo, sondern einen schlichten Brief vom Begegnungszentrum.
Ein Vertrag über einige zusätzliche Stunden, eine kleine Erhöhung der Pauschale. Und ein handgeschriebener Zettel von Frau Mertens: „Danke, dass Sie bleiben, wenn andere gehen.“
Ich legte den Brief nicht zu den Kündigungen in die Schublade. Stattdessen steckte ich ihn an den Kühlschrank, mit einem Magneten, auf dem irgendeine Werbung stand. Jeden Morgen, wenn ich den Kaffee einschenkte, fiel mein Blick darauf.
Manchmal vermisse ich die Klarheit einer Lohnabrechnung, die genaue Zahl, die sagt: „So viel warst du diesen Monat wert.“ Es gibt Tage, an denen die Sorgen zurückkommen: Rente, steigende Preise, die Frage, wie viele Jahre „reichen“.
Aber dann klingelt es an der Tür, und Frau Schneider steht da mit einem zu schweren Korb. Oder ich komme ins Zentrum, und jemand sagt:
„Gut, dass Sie da sind, Thomas, ohne Sie ist es hier irgendwie… leer.“
In einem Land, in dem so viel gemessen, berechnet und zertifiziert wird, habe ich einen Ort gefunden, an dem mein Wert sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt. Sondern in einem Stuhl, der besetzt ist, weil jemand auf mich gewartet hat.
Meine drei Kündigungen erzählen davon, wie oft man mich auf Papier für verzichtbar erklärt hat.
Mein Alltag im Begegnungszentrum erzählt etwas anderes: dass ich, so lange ich atme, für irgendjemanden derjenige sein kann, der den Kaffee einschenkt, die Geschichte zum dritten Mal anhört und sagt:
„Ich bin da. Und Sie sind kein Füllmaterial.“
Vielleicht ist das kein Karriereweg, den man in einer Präsentation zeigen würde. Aber es ist ein Leben, in dem ich endlich nicht mehr verschwinde, wenn jemand die Tür öffnet. Und für einen Mann mit drei Kündigungen in der Schublade fühlt sich genau das an wie ein ruhiger, aber echter Sieg.






