Und doch begann alles mit einem einfachen Klingeln an meiner Tür.
Manchmal beginnt ein neues Kapitel nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem leisen Geräusch.
Bei mir war es ein Klingeln an einem völlig unscheinbaren Januarmorgen, als der Schnee nass und grau auf den Straßen von Köln lag.
Ich hatte gerade meinen Mantel zugezogen und wollte einkaufen gehen, als die Türglocke mich aufhalten ließ. Niemand hatte sich angekündigt. Niemand klingelte bei mir unangemeldet.
Als ich öffnete, stand dort Frau Mertens aus dem dritten Stock. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, vielleicht Mitte 60, immer etwas hastig, immer etwas unruhig, als würde sie dem Leben hinterherlaufen.
„Helga, entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte nur fragen… fahren Sie gleich los? Könnten wir vielleicht zusammen? Ich habe seit Tagen solche Rückenschmerzen.“
Es war ein kleiner Satz. Eine Kleinigkeit. Und doch traf er mich mitten ins Herz.
Jemand brauchte mich.
Mich.
Ich nickte, etwas überrascht, und sagte nur: „Natürlich. Ziehen Sie sich warm an, es ist glatt.“
Wir fuhren zusammen zum Supermarkt, und zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich nicht wie die älteste Person im Raum, sondern wie jemand, der etwas beitragen konnte. Jemand, der geholfen hatte.
Auf dem Rückweg sagte Frau Mertens plötzlich:
„Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist… aber seit mein Mann tot ist, schweigen die Tage. Manchmal ist es so still in meiner Wohnung, dass mir die Ohren wehtun.“
Ich schwieg.
Denn ich kannte genau dieses Schweigen.
In diesem Moment begriff ich etwas, das ich viel früher hätte sehen müssen:
Ich war nicht allein in meiner Einsamkeit.
Zwei Wochen später saß ich mit acht anderen Menschen in unserem Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Frau Mertens hatte mich eingeladen oder besser gesagt überredet zu einem neuen „Dienstagskaffee“, den ein paar der älteren Bewohner gestartet hatten.
„Einfach zusammensitzen, plaudern, ein bisschen lachen“, sagte sie. „Nichts Großes.“
Aber es wurde etwas Großes.
Da war Herr Becke, der früher Lokführer war und Geschichten erzählte, als würde er noch immer mit der Bahn durch Deutschland fahren.
Da war Ursula, deren Enkel seit Jahren in Australien lebt und die trotzdem jede Woche einen Brief schreibt, obwohl sie weiß, dass er ihn nie lesen wird.
Da war Fatma, die seit vierzig Jahren in Deutschland lebt und baklava backt, das besser schmeckt als alles, was ich je gegessen habe.
Und irgendwo mittendrin war ich.
Ich lachte.
Ich redete.
Ich hörte zu.
Ich war Teil von etwas.
Ich merkte, wie mein Blick auf die Welt sich veränderte. Nicht alles drehte sich um das, was ich verloren hatte. Es gab auch Dinge, die ich noch gewinnen konnte. Gemeinschaft. Nähe. Kleine Momente.
An einem Samstag im Februar – es war kalt, aber die Sonne schien hell – beschloss ich, etwas zu tun, was ich lange nicht mehr gemacht hatte: Ich backte meinen Apfelstrudel.
Nicht für meine Tochter.
Nicht für ein Familienfest.
Sondern für die Dienstagsrunde.
Für meine Leute.
Als wir gemeinsam am Tisch saßen, alle mit warmen Tellern vor sich, sagte Herr Becke plötzlich:
„Helga, das schmeckt nach Zuhause.“
Und ich musste die Augen schließen, weil ich seit Monaten genau das gesucht hatte:
Ein Zuhause, das nicht an eine Adresse gebunden war.
Ein Zuhause, das man mit Menschen teilt, die verstehen, dass ein Herz nicht aufhört zu lieben, nur weil es älter wird.
Jana meldete sich derweil fast jeden Tag. Kurze Nachrichten.
„Mama, alles gut?“
„Wie war dein Tag?“
„Die Kinder wollen dich am Wochenende sehen.“
Sie hatte begriffen, nicht durch Vorwürfe, sondern durch ein leises Schweigen, das plötzlich spürbar geworden war.
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