Das Ping. Dieses kleine, digitale Geräusch, das gestern Abend unser Leben verändert hat, ist verstummt. Aber sein Echo hallt noch immer in den Wänden unserer Küche wider, lauter als der Dezemberwind, der draußen an den Fensterläden rüttelt.
Es ist der nächste Morgen. Ein Montag. Der schlimmste aller Tage in Julians Kalender.
Normalerweise ist der Montagmorgen in unserem Haus ein Kampf gegen unsichtbare Mauern. Ich muss Julian meistens dreimal wecken. Er zieht sich langsam an, jede Bewegung ein stummer Protest, und das Frühstück würgt er hinunter, als wäre es trockenes Sägemehl. Sein Blick ist dann meist schon glasig, vorauseilend auf der Flucht vor dem, was ihn in der Schule erwartet: Frau Bergmann, die Kunstlehrerin, und die kalte, graue Realität des Pausenhofs.
Doch heute ist es anders.
Als ich um sechs Uhr morgens schlaftrunken in die Küche schlurfe, brennt bereits Licht. Der Geruch von Heißkleber und frischem Kaffee – den er natürlich nicht trinkt, aber für mich aufgesetzt hat – liegt in der Luft.
Julian sitzt am Küchentisch. Er trägt bereits seine Schuluniform, das dunkelblaue Sweatshirt, das er sonst hasst, weil der Stoff ihn kratzt. Aber heute scheint er es nicht zu bemerken. Vor ihm auf der gewachsten Tischplatte steht sie: die dritte Figur.
Ich bleibe im Türrahmen stehen, den Atem anhaltend. Ich traue mich kaum, die Stille zu zerbrechen, diese heilige, kreative Stille, die ich vier Monate lang so schmerzlich vermisst habe.
„Für dich“, sagt er, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme ist leise, brüchig noch, aber sie ist da. Er spricht. Vor der Schule.
Ich trete näher. Die Figur ist etwas größer als die anderen beiden. Es ist kein Schneemann im klassischen Sinne. Die Form ist fließender, weicher. Die Figur scheint sich nach vorne zu beugen, die Arme weit ausgebreitet, als wollte sie die Luft umarmen. Und der „Mantel“ der Figur… mir steigen sofort Tränen in die Augen.
Julian hat alte Seiten aus einem Buch genommen – ich erkenne mein altes Lieblingsbuch, das schon fast auseinanderfiel –, sie in winzige Schnipsel gerissen und schuppenartig übereinandergeklebt. Aber es ist nicht nur Papier. In der Mitte der Figur, dort, wo das Herz schlagen würde, hat er ein kleines Stück Spiegelglas eingesetzt, das er wohl von einer zerbrochenen Puderdose hat.
„Warum der Spiegel?“, frage ich heiser und streiche vorsichtig über die papierenen Schultern der Figur.
Julian sieht mich an. Seine Augen sind gerötet – er hat sicher kaum geschlafen –, aber sie sind wach. „Weil du immer alles reflektierst, Mama. Wenn ich traurig bin, bist du traurig. Wenn ich Angst habe, hast du Angst. Du fängst alles auf.“ Er macht eine kurze Pause, seine Finger zupfen nervös an der Tischkante. „Der Spiegel ist, damit du… damit du auch mal das Licht einfangen kannst. Nicht nur den Schatten.“
Ich muss mich am Stuhl festhalten. Mein elfjähriger Sohn, dem die Schule die emotionale Intelligenz abspricht, hat gerade meine Seele in Styropor und Scherben erklärt.
„Julian“, beginne ich, aber er unterbricht mich. Er schiebt mir einen Zettel hin. Es ist ein Ausdruck.
„Hannes hat geschrieben“, sagt er. „Nicht als Kommentar. Eine E-Mail.“
Hannes Holzschnitzer. Der Mann aus dem Schwarzwald. Ich nehme das Blatt. Der Text ist kurz, aber in einer förmlichen, respektvollen Sprache verfasst, als würde er einem erwachsenen Handwerksmeister schreiben.
„Lieber Julian,
ich habe heute Morgen meine Werkstatt aufgeschlossen und musste an deinen rosa Schneemann denken. Du hast ein Auge für das Wesentliche, Junge. Das kann man nicht lernen, das hat man. Styropor ist ein guter Anfang. Es ist geduldig. Aber ich glaube, deine Hände suchen nach etwas Widerstandsfähigerem. Etwas, das bleibt. Wenn deine Mutter es erlaubt, schicke ich dir ein Päckchen. Ein paar weiche Lindenholzblöcke und mein altes Schnitzmesser. Nicht das scharfe für die Profis, sondern das, mit dem ich angefangen habe. Die Welt ist laut, Julian. Aber wenn man schnitzt, wird sie leise. Bleib dran.
Dein Kollege Hannes.“
Kollege. Er hat ihn „Kollege“ genannt.
„Darf ich?“, fragt Julian. In seinen Augen flackert eine Mischung aus Hoffnung und Unglauben.
„Natürlich“, flüstere ich. „Wir antworten ihm heute Abend.“
Doch dann fällt mein Blick auf die Uhr. 07:10 Uhr. Die Realität bricht herein wie ein kalter Luftzug. Der Bus. Die Schule. Frau Bergmann.
Julians Schultern sacken augenblicklich nach unten, als hätte ich einen Schalter umgelegt. Der Glanz in seinen Augen weicht diesem stumpfen Schleier. Er greift nach seinem Rucksack. Die Magie des Morgens scheint zu verpuffen.
„Soll ich dich fahren?“, biete ich an, wohl wissend, dass es nichts an dem ändert, was ihn dort erwartet.
Er schüttelt den Kopf. „Nein. Johannah wartet an der Bushaltestelle.“ Er zögert. Dann greift er nach der kleinen Figur von Johannah, dem rosa Schneemann mit den Wiesenblumen.
„Was hast du vor?“, frage ich alarmiert. „Julian, du kannst die nicht mitnehmen. Wenn sie kaputt geht… oder wenn jemand…“
„Ich muss“, sagt er fest. Seine Stimme zittert, aber sein Kinn ist oben. „Johannah hat heute Mathetest. Sie hat Angst. Die Figur soll in ihrer Tasche sein. Als Glücksbringer.“
Ich will ihn aufhalten. Ich will ihn warnen, dass Kinder grausam sind und Lehrer verständnislos. Aber ich erinnere mich an Hannes’ Worte: Du hast ein Auge für das Wesentliche. Wer bin ich, ihm seinen Mut auszureden?
„Pass gut auf sie auf“, sage ich nur und drücke ihn fest an mich. Er riecht nach Kleber und diesem kindlichen Moschusduft, der langsam verblasst.
Als die Tür ins Schloss fällt, bricht die Stille wieder über das Haus herein. Aber es ist keine ängstliche Stille mehr. Ich setze mich an den Computer und öffne die Facebook-Gruppe.
Die Zahl der Benachrichtigungen ist explodiert. 400 Likes. 50 Kommentare. Leute aus dem ganzen Landkreis teilen das Bild. Eine Frau aus Starnberg fragt, ob Julian eine ganze Weihnachtskrippe bauen kann. Ein lokaler Kindergarten fragt an, ob er den Kindern zeigen könnte, wie man „Seelen-Schneemänner“ baut.
Ich scrolle und scrolle, stolz und ängstlich zugleich. Und dann sehe ich es. Ein neuer Kommentar, gepostet vor zehn Minuten.
„Ist das nicht der Julian aus der 6b? Ich wusste gar nicht, dass der ‘Verrückte’ sowas kann. Eigentlich voll krass.“
Der Profilname ist ein Pseudonym: „DarkGamer09“. Aber der Tonfall ist eindeutig. Ein Mitschüler.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das kann in zwei Richtungen gehen. Entweder wird er der Held der Schule, oder er wird zur Zielscheibe für noch perfideren Spott. „Verrückter“. Das Wort brennt auf dem Bildschirm.
Ich verbringe den Vormittag wie in Trance. Ich arbeite an einem Dekorationskonzept für ein Schaufenster in der Innenstadt, aber meine Gedanken sind im Klassenzimmer der 6b. Um 11 Uhr klingelt mein Handy. Das Display zeigt die Nummer der Schule an.
Mir wird eiskalt. Ich lasse die Samtvorhänge fallen, die ich gerade drapiere. „Hallo?“, melde ich mich, meine Stimme schrill.
„Frau Leitner? Hier ist das Sekretariat des Gymnasiums. Könnten Sie bitte vorbeikommen? Es gab einen… Vorfall.“
„Geht es Julian gut?“, schreie ich fast.
„Er sitzt hier bei Herrn Direktor Huber. Es geht um… nun ja, um Kunstgegenstände und eine Auseinandersetzung.“
Ich lasse alles stehen und liegen. Die Fahrt zur Schule dauert zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, in denen ich mir die schlimmsten Szenarien ausmale. Haben sie seine Figuren zerstört? Hat er jemanden geschlagen? Hat er wieder aufgehört zu sprechen, diesmal für immer?
Als ich in das Sekretariat stürme, sehe ich Julian auf dem harten Holzstuhl vor dem Büro des Direktors sitzen. Er sieht winzig aus. Neben ihm sitzt Johannah, die eigentlich in der Grundschule nebenan sein sollte. Sie hält seine Hand so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
Auf dem Tisch vor ihnen stehen die Figuren. Der nachdenkliche graue Schneemann. Und Johannahs rosa Schneemann. Sie sind unversehrt.
„Mama!“, ruft Johannah, als sie mich sieht. Julian hebt den Kopf. Er weint nicht. Sein Gesicht ist bleich, aber seine Augen funkeln dunkel.
Die Tür zum Direktorzimmer öffnet sich. Herr Huber, ein Mann, der immer aussieht, als würde ihm sein Anzug nicht passen, tritt heraus. Neben ihm steht Frau Bergmann, die Kunstlehrerin. Sie hat die Arme verschränkt, ihre Lippen sind ein dünner Strich.
„Frau Leitner“, sagt Huber und deutet auf die Stühle. „Bitte.“
Wir gehen hinein. Die Atmosphäre ist geladen wie vor einem Gewitter.
„Julian hat heute den Unterricht gestört“, beginnt Frau Bergmann sofort, noch bevor wir richtig sitzen. „Wir hatten das Thema ‚Fluchtpunktperspektive‘. Julian weigerte sich, die Aufgabe zu erfüllen. Stattdessen holte er diese… Bastelarbeiten hervor und stellte sie auf seinen Tisch.“
Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt, heiß und pulsierend. „Er hat sie seiner Schwester als Glücksbringer gegeben“, sage ich scharf. „Er wollte sie nur beschützen.“
„Er ist in den Pausenhof der Grundschule gelaufen“, wirft Huber ein, aber sein Ton ist milder. „Das ist gegen die Vorschriften.“
„Weil Johannah geweint hat!“, platzt es plötzlich aus Julian heraus.
Wir alle zucken zusammen. Es ist das erste Mal, dass er vor Lehrern so laut spricht.
„Lukas und die anderen…“, Julian schluckt schwer, seine Hände ballen sich zu Fäusten. „Sie haben Johannah den Rucksack weggenommen. Sie wollten sehen, was der ‚Verrückte‘ gebaut hat. Sie haben das Bild im Internet gesehen. Sie wollten die Figur kaputt machen.“
Wir alle zucken zusammen. Es ist das erste Mal, dass er vor Lehrern so laut spricht.
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