Ich sehe zu Johannah. Sie nickt heftig, Tränen laufen über ihre Wangen.
„Und was hast du getan, Julian?“, fragt Huber leise.
„Ich habe sie mir geholt“, sagt Julian. „Ich bin hingerannt und habe Lukas geschubst. Und dann habe ich gesagt…“ Er stockt. Er sieht mich an, sucht Halt.
„Was hast du gesagt?“, frage ich sanft.
„Ich habe gesagt: Das ist kein Müll. Das ist Kunst. Und Hannes hat gesagt, es hat eine Seele. Ihr habt keine Seele, wenn ihr das kaputt macht.“
Stille im Raum. Frau Bergmann schnaubt verächtlich. „Nun, Gewalt ist keine Lösung, Julian. Und sich hinter irgendwelchen Internet-Bekanntschaften zu verstecken…“
„Halt“, unterbreche ich sie. Meine Stimme ist gefährlich ruhig. Ich stehe auf und hole mein Handy heraus. Ich öffne den Beitrag.
„Sehen Sie das?“, frage ich und halte Frau Bergmann das Display unter die Nase. „Das sind 600 Menschen, die anderer Meinung sind als Sie. Darunter Hannes Holzschnitzer, ein Handwerksmeister mit vierzig Jahren Berufserfahrung. Und hier…“, ich scrolle weiter, „…hier ist ein Kommentar von der Leiterin der Münchner Kunstakademie für Kinder. Sie schreibt: ‚Selten so eine emotionale Tiefe bei einem Kind gesehen. Großartiges Gespür für Materialität.‘“
Frau Bergmanns Gesicht verliert etwas von seiner Farbe. Sie blinzelt. Sie liest den Kommentar. Dann sieht sie auf die Styroporfiguren auf dem Tisch. Zum ersten Mal sieht sie wirklich hin. Sie sieht die getrockneten Wiesenblumen. Die Schattierungen. Den Ausdruck.
„Julian ist kein Störenfried“, fahre ich fort, und meine Stimme zittert nun doch, vor Stolz und vor Wut über die verlorenen Monate. „Er ist ein Künstler, der eine andere Sprache spricht. Und Sie… Sie haben ihm den Mund verboten, anstatt ihm zuzuhören.“
Herr Huber räuspert sich. Er nimmt seine Brille ab und putzt sie umständlich. Das ist sein Zeichen für Kapitulation.
„Frau Bergmann“, sagt er schließlich und sieht seine Kollegin streng an. „Vielleicht sollten wir unsere pädagogischen Ansätze überdenken. Wenn die Akademie Potenzial sieht, sollten wir es fördern, nicht sanktionieren.“
Er wendet sich an Julian. „Das Schubsen war nicht in Ordnung, Julian. Dafür wirst du eine Strafarbeit machen müssen.“ Er macht eine Pause, und ein kleines Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. „Aber vielleicht… vielleicht könnte diese Strafarbeit darin bestehen, dass du eine dieser Figuren für das Sekretariat anfertigst? Wir bräuchten noch etwas Weihnachtliches für den Empfangstresen.“
Julian sieht den Direktor an, als hätte der gerade Mandarin gesprochen. Dann wandert sein Blick zu Frau Bergmann. Sie wirkt klein jetzt. Besiegt von der Realität, dass ihre Welt der starren Regeln Risse bekommen hat.
„Okay“, sagt Julian leise.
Wir verlassen die Schule zwanzig Minuten später. Es hat wieder angefangen zu schneien, dicke, nasse Flocken, die sofort auf dem Asphalt schmelzen. Aber die Luft fühlt sich nicht mehr so kalt an.
Julian hält Johannahs Hand. In der anderen Hand trägt er die Kiste mit den Figuren, wie einen Schatz.
„Hast du das gesehen, Mama?“, fragt Johannah und hüpft über eine Pfütze. „Der Direktor will einen Schneemann!“
„Ja, Mäuschen“, sage ich.
Wir gehen zum Auto. Bevor Julian einsteigt, bleibt er stehen. Er sieht mich an, und da ist er wieder – dieser Blick, den ich seit dem Sommer nicht mehr gesehen habe. Klar. Fokussiert.
„Mama?“, sagt er.
„Ja, Julian?“
„Hannes hat recht“, sagt er und sieht in den grauen Himmel, wo die Flocken tanzen. „Lindenholz ist besser. Styropor fliegt weg, wenn der Wind kommt. Holz bleibt.“
Ich nicke und schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. „Dann fahren wir jetzt nach Hause und schreiben Hannes. Sag ihm, er soll das Messer schicken.“
Julian lächelt. Es ist kein vorsichtiges Lächeln mehr. Es ist ein echtes Lächeln, das seine Augen erreicht und die Schatten der letzten Monate vertreibt.
„Ja“, sagt er. „Ich habe schon eine Idee für das erste Stück Holz. Ich mache einen Bären für Lukas. Einen, der böse guckt, aber innen drin ganz weich ist. Vielleicht versteht er es dann.“
Wir steigen ein. Der Motor springt an. Das Radio spielt leise ein Weihnachtslied, aber viel schöner ist das Geräusch auf dem Rücksitz: Julian und Johannah, die leise tuscheln und kichern, während sie Pläne schmieden für eine Welt, die sie selbst erschaffen. Eine Welt, in der Kunst nicht benotet wird, sondern gefühlt. Und in der ein bisschen Styropor, Mut und die richtigen Worte im Internet ausreichen, um das Eis zu brechen.
Das Ping ist verstummt. Aber die Geschichte hat gerade erst angefangen.






