Am nächsten Morgen, im gleichen nüchternen Autobahnhotel irgendwo bei Kassel, fühlte sich alles an, als hätte jemand die Nacht in der Lobby in meine Knochen gegossen.
Ich wachte davon auf, dass Lotte leise mit den Krallen auf dem Teppich scharrte und Markus’ Hand anstupste. Er war nicht schreiend hochgeschreckt wie sonst. Er blinzelte nur, atmete ein paarmal tiefer und strich ihr übers Fell.
„Geht’s?“, flüsterte ich.
Er nickte zögerlich. „Besser als gedacht.“
Die Kinder schliefen noch quer und geknautscht in den Betten, Jonas halb unter der Decke, Lea mit offenen Haaren über dem Kissen, unsere Jüngste ausgestreckt im Reisebett, als hätte sie die ganze Welt im Schlaf erobert.
Für ein paar Sekunden war es still. Nur das Summen der Klimaanlage und das leise Schnaufen von Lotte. Und dann kam alles zurück: der Tresen, die zittrige Stimme der Angestellten, Markus’ flacher Atem, das ruhige, bestimmte Auftauchen von Herrn Schneider.
Ich setzte mich an den kleinen Schreibtisch, der an der Wand stand. Auf der Oberfläche lag der WLAN-Zettel, daneben der ehemals weiße Kugelschreiber mit Hotelaufdruck.
Ich starrte auf das Logo, als wäre es ein Symbol für all die Orte, an denen Menschen mit Assistenzhund immer noch erklären müssen, warum sie sein dürfen, wo andere einfach durchgehen.
Hinter mir raschelte Jonas. „Mama?“, brummte er verschlafen. „War das gestern wirklich die Polizei?“
Ich drehte mich zu ihm um und lächelte. „Ja.“
„Also… so richtig? Mit allem?“ Er zeigte vage auf seine Brust, als müsste da irgendwo eine Weste sitzen.
„Mit allem“, bestätigte ich. „Mit Funkgerät, Weste und Namensschild.“
Lea setzte sich auf, die Haare wild in alle Richtungen. „Der war nett“, sagte sie unvermittelt. „Der hat nicht geschimpft.“
Markus’ Blick glitt zu mir. In seinen Augen lag immer noch Müdigkeit, aber ein wenig von der Starre war weg.
„Wir gehen gleich runter zum Frühstück“, sagte ich. „Aber erst mal… möchte ich was aufschreiben.“
Ich nahm den Kugelschreiber in die Hand. Die Mine kratzte auf dem Papier, als ich die ersten Worte in das Notizbuch schrieb, das ich eigentlich für Einkaufslisten benutze:
„Letzten Freitagabend haben meine Kinder etwas gesehen, das ich ihnen mit Worten allein nie hätte erklären können…“
Die Sätze kamen stockend und dann doch überraschend flüssig. Ich schrieb, wie Markus vor der Rezeption stand, wie Lotte sich an ihn lehnte, wie ich das Gefühl hatte, als Familie zu viel zu sein. Ich schrieb von Herr Schneider, der nicht fragte, warum wir „so spät“ anrufen oder ob das wirklich nötig sei.
Irgendwann kam Markus näher und las über meine Schulter. „Willst du das wirklich festhalten?“, fragte er leise.
Ich hielt inne. „Ja“, sagte ich schließlich. „Nicht, um jemandem Vorwürfe zu machen. Sondern, damit unsere Kinder später wissen, dass wir uns Hilfe holen durften. Und dass es Menschen gibt, die das ernst nehmen.“
Er schwieg einen Moment. Dann legte er die Hand auf meine Schulter. „Dann schreib.“
Beim Frühstück war die Hotellobby plötzlich ein anderer Ort. Das helle Licht, der Geruch von Kaffee, der Korb mit Brötchen, alles wirkte vertraut und fremd zugleich.
Die junge Angestellte von gestern stand wieder hinter dem Tresen. Ohne Uniform, nur in einer hellen Bluse. Als sie uns sah, wurde sie sofort rot.
„Guten Morgen“, sagte sie zaghaft. „Ich… äh… wollte mich noch mal entschuldigen. Ich habe gestern Abend mit meinem Vorgesetzten gesprochen. Wir werden die Hinweise zu Assistenzhunden in unsere Schulung aufnehmen. Das… hätte nicht so laufen dürfen.“
Ich merkte, wie sich in mir zwei Stimmen stritten: die müde, verletzte, die sagen wollte „Das hätte uns gestern aber auch nicht geholfen“ und die andere, die sah, wie sehr ihr die Situation immer noch naheging.
„Danke, dass Sie das sagen“, antwortete ich nach einer kleinen Pause. „Es war ein langer Tag.“
Markus nickte nur, zog Lotte ein Stück näher zu sich und setzte sich mit den Kindern an einen Tisch.
Die Angestellte zögerte. „Darf ich Lotte etwas sagen?“, fragte sie dann, fast schüchtern.
„Wenn Sie wollen, ja. Aber nicht ungefragt anfassen“, erklärte ich automatisch.
Sie ging einen Schritt auf die Hündin zu, blieb aber auf Abstand. „Danke, dass Sie ihm helfen“, sagte sie leise.
Lotte legte kurz den Kopf schief, schnupperte in ihre Richtung und wandte sich dann wieder Markus zu. Es war kein großes, rührendes Hollywood-Zeichen. Nur ein kleiner, unspektakulärer Moment. Aber ich spürte, wie sich in mir etwas entspannte.
Auf der Fahrt am nächsten Tag war die Autobahn dieselbe, aber etwas hatte sich verändert.
Markus setzte sich wieder hinters Steuer. Es ist seine Art, sich nicht alles von der PTBS nehmen zu lassen. Lotte lag hinter seinem Sitz, den Kopf so positioniert, dass sie seine rechte Hand sehen konnte.
„Wenn es dir zu viel wird, sagst du Bescheid“, sagte ich, als wir vom Parkplatz fuhren.
Er atmete tief durch. „Und wenn nicht, stupst mich Lotte an“, versuchte er zu scherzen.
Jonas blickte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Lärmschutzwände. „Mama?“, meldete er sich irgendwann von hinten. „Dürfen wir in der Schule erzählen, was passiert ist?“
Ich überlegte. „Wenn du möchtest, ja“, sagte ich. „Aber… erzähl bitte auch, dass Papa nicht ‚komisch‘ ist. Sondern dass er etwas erlebt hat, das Spuren hinterlassen hat. Okay?“
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