Wie ein unbeachtetes Paket mich zwang, endlich wieder auf meine Nachbarn zu achten

Ein paar Minuten später kam die Sanitäterin zurück.

„Sie war im Bad gestürzt und konnte nicht mehr hoch“, erklärte sie knapp. „Zum Glück haben Sie angerufen, sie liegt wohl schon seit letzter Nacht so. Aber sie ist bei Bewusstsein. Wir bringen sie ins Krankenhaus.“

Frau Ingrid presste eine Hand vor den Mund.

„Ich wohne seit sechs Jahren hier“, flüsterte sie. „Ich kannte nicht mal ihren Nachnamen.“

Ich spürte, wie meine Augen brannten.

„Dann fangen wir heute damit an“, sagte ich. „Wir fahren sie besuchen, wenn sie wieder stabil ist. Wir sind ja jetzt Ihre ‚Stille Türen‘-Kollegen.“

Die Sanitäterin lächelte kurz.

„Ich wünschte, es gäbe in mehr Häusern solche Kollegen“, murmelte sie, bevor sie die Trage hinaus schob.

In der Nacht lag ich lange wach.

Draußen rauschte der Verkehr von der Stadtgrenze Düsseldorfs. Irgendwo in der Ferne hörte ich eine Sirene – vielleicht dieselbe, die vor ein paar Wochen Herrn Meier geholt hatte, vielleicht eine andere.

Ich dachte an alle geschlossenen Türen in allen Städten. An Pakete, die vor sich hinregnen. An Rollos, die unten bleiben. An Lichter, die nicht angehen.

Und daran, wie wenig es manchmal braucht, um den Unterschied zu machen:

Eine Nachbarin, die ein Bauchgefühl ernst nimmt.

Ein Zettel im Flur.

Ein kurzer Anruf.

Ich hatte 112 ursprünglich gewählt, weil ein Paket drei Tage vor einer Tür stand.

Jetzt begriff ich: Eigentlich hatte ich da angefangen, eine ganz andere Nummer zu wählen.

So etwas wie die Notrufnummer für meine eigene Art zu leben.

Wenige Wochen später sah ich Herrn Meier wieder im Flur. Diesmal ohne Schlinge, aber noch immer mit vorsichtigen Schritten.

„Ich habe gehört, Sie haben schon wieder einen gerettet“, sagte er scherzhaft. „Pass auf, sonst nennen sie dich bald ‚die Hausflur-Engel von Düsseldorf‘.“

Ich verdrehte die Augen.

„Ich bin kein Engel“, antwortete ich. „Ich habe einfach endlich angefangen, hinzusehen.“

Er nickte langsam.

„Das reicht oft“, sagte er.

Und als ich an diesem Abend meine Tür schloss, ließ ich sie innerlich einen Spalt offen. Für das nächste Licht, das nicht angeht. Für das nächste Paket, das zu lange da liegt. Für die nächste leise Stimme hinter einer stillen Tür.

Denn ich wusste inzwischen:

Gesehen zu werden, ist manchmal der erste Schritt, um nicht verloren zu gehen.

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