Wenn ich damals gewusst hätte, dass ein alter Hund nicht nur einen alten Mann, sondern ein ganzes Dorf verändern würde, ich hätte mein Versprechen an Ernst schon viel früher gebrochen.
Doch die Geschichte von Buddy und mir endete nicht auf der Bank am See. Eigentlich begann sie erst dort.
Der erste Winter mit Buddy zog sich lang.
Schnee blieb selten liegen in unserem Ort, aber die Kälte kroch trotzdem unter die Türen. Ich kaufte einen kleinen Teppich für den Flur, hauptsächlich, damit Buddy nicht auf den kalten Fliesen ausrutschte.
Mein Leben richtete sich plötzlich nach seinen Schritten: Aufstehen, wenn er leise fiepte; rausgehen, wenn er unruhig zum Balkon lief; früher ins Bett, weil er abends seinen festen Platz am Fußende suchte.
Eines Morgens blieb er beim Aufstehen einfach stehen und sackte halb wieder zurück auf die Decke.
Panik schoss mir durch den Körper. Ich kniete mich zu ihm, legte ihm die Hand auf die Brust. Sein Herz schlug noch ruhig, aber er atmete schwer.
„Komm, alter Junge“, murmelte ich. „Wir zwei sind noch nicht fertig.“
Ich rief die Tierärztin im Nachbarort, Frau Doktor Wieland. Eine ruhige Frau mittleren Alters mit sanfter Stimme und festen Händen. Sie kannte Ernst gut und Buddy natürlich auch.
In der Praxis roch es nach Desinfektionsmittel und etwas Süßlichem. Buddy ließ alles geduldig über sich ergehen: Abhören, Abtasten, Spritze.
Die Ärztin zog schließlich die Stirn kraus.
„Er ist sehr alt, Herr…?“
„Müller. Hans Müller“, sagte ich. „Und ich weiß, dass er alt ist. Ich bin es auch.“
Sie lächelte kurz, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
„Sein Herz ist schwach, die Gelenke machen ihm zu schaffen. Er braucht Medikamente, ruhigere Spaziergänge und… Ihre Geduld.“
Ich nickte. Geduld hatte ich genug. Zeit auch.
Auf der Rückfahrt lag Buddy zusammengerollt auf der Rückbank, den Kopf auf meinem alten Mantel. Am Ortseingang fuhr gerade der Schulbus vorbei, Kinder drückten sich an die Scheiben, einige winkten.
Früher hätte ich wohl nicht zurückgewinkt. Diesmal tat ich es. Wegen Buddy, der meinen Blick veränderte.
Im Frühling begannen die Veränderungen im Dorf. Ganz leise.
Zuerst war da Frau Klee aus dem Reihenhaus gegenüber, verwitwet wie ich, mit ewigem Dutt und karierten Schürzen. Sie sprach seit Jahren nur das Nötigste mit mir.
Eines Nachmittags sah sie, wie ich mühsam mit Buddy die Stufen vor dem Haus hinunterging. Er brauchte inzwischen länger, seine Hinterläufe waren wacklig.
„Warten Sie mal, Herr Müller“, rief sie und kam über die Straße. „Ich hab da was.“
Am nächsten Tag stand vor meiner Tür eine selbstgezimmerten Rampe aus alten Holzbrettern. Nicht besonders schön, aber stabil.
„Mein Bruder war Schreiner“, murmelte sie verlegen. „Ein alter Hund soll nicht auf den Stufen scheitern.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also nickte ich nur und legte die Hand auf Buddys Kopf.
„Sehen Sie, Buddy“, sagte ich später. „Wir sind nicht mehr unsichtbar.“
Kurz darauf meldete sich die junge Lehrerin aus der Grundschule. Sie hieß Frau Sommer, trug bunte Schals und hatte immer ein paar Mappen unterm Arm, als würde sie die ganze Welt unterrichten wollen.
Sie sprach mich am Bäcker an.
„Entschuldigen Sie, sind Sie der Herr mit diesem großen, grauen Hund?“
Ich hielt kurz den Atem an. Früher bedeutete so eine Frage oft Ärger.
„Ja“, antwortete ich vorsichtig. „Das bin ich wohl.“
Sie lachte.
„Die Kinder reden ständig von ihm. Sie haben ihn wohl oft vor der Schule gesehen. Dürfte Buddy einmal zu uns kommen? Für eine Lesestunde? Wir lesen gerade Geschichten über Freundschaft und…“ – sie suchte das Wort – „Verlässlichkeit.“
Ich musste mich setzen. Die Brötchentüte knisterte in meiner Hand.
Ein alter Hund, der kaum noch die Treppen schaffte, sollte zu Schulkindern?
Aber als ich zu Hause Buddy ansah, wie er mit halb geschlossenen Augen auf seiner Decke lag, wusste ich: Es musste sein. Für ihn. Für Ernst. Für mich.
Eine Woche später standen wir vor der Schule.
Buddy war frisch gebürstet, das Fell zwar dünn, aber sauber. Ich hatte die Tabletten eingepackt, eine Flasche Wasser und ein altes Foto von Ernst, das ich noch in der Kommode gefunden hatte – Ernst lachend, Buddy als junger Hund neben ihm, beide mit nassen Pfoten am See.
Die Kinder saßen im Halbkreis auf dem Teppich, als wir hereinkamen. Es wurde schlagartig still.
Buddy blieb im Türrahmen stehen, schnupperte, sah zu mir hoch. Ich ging ein paar Schritte vor, klopfte auf den Boden.
„Komm, alter Junge. Es sind nur Kinder.“
Er setzte sich schließlich mitten in den Raum, schwer, mit einem Seufzer, als wolle er sagen: „Na gut, aber dann macht was draus.“
Eine kleine Hand schoss in die Höhe.
„Wie heißt er?“
„Buddy“, sagte ich. „Er war der Hund meines besten Freundes.“
Ich erzählte in einfachen Sätzen, wie Ernst und ich als junge Männer gelernt hatten, wie Ernst allein blieb, wie Buddy zu ihm kam. Ich erzählte nicht alles, nicht von den Schläuchen im Krankenhaus, nicht von der Verzweiflung am Tag der Beerdigung. Aber ich erzählte genug, damit die Kinder verstanden, warum dieser Hund mehr war als nur ein Tier.
Frau Sommer las eine Geschichte vor, in der ein Junge seinen Hund nicht im Stich lässt, auch wenn es schwer ist. Währenddessen legte ein Mädchen mit Zöpfen vorsichtig ihre Hand auf Buddys Rücken. Er bewegte sich nicht, atmete nur ruhig weiter.
Am Ende der Stunde zeichnete eine Gruppe Kinder uns drei: Ernst, Buddy und mich.
Ernst kannte sie nicht. Aber sie malten ihn trotzdem, als wäre er immer Teil unseres Dorfes gewesen.
Von da an war Buddy nicht mehr nur „der alte Hund vom Ernst“.
Er war der Hund, der in der Schule war. Der Hund, der über die Rampe läuft. Der Hund, der alt ist und trotzdem noch da.
Die Blicke der Leute änderten sich.
Wenn wir langsam die Straße entlang gingen, winkten Jugendliche von gegenüber. Der Postbote blieb einmal stehen, um Buddy über die Schnauze zu streichen.
„Der hat mehr erlebt als ich“, sagte er und lachte leise.
Eines Abends jedoch, als der Sommer schon in den Herbst kippte, merkte ich, dass etwas anders war.
Buddy stand mitten im Wohnzimmer und starrte in eine Ecke, in der nichts war. Sein Körper zitterte leicht.
„Na komm“, flüsterte ich. „Wir gehen schlafen.“
Doch in dieser Nacht stand er mehrmals auf, wanderte unruhig hin und her. Ich setzte mich zu ihm auf den Boden, legte eine Hand auf seinen Rücken, fühlte das dünne Fell, die Knochen darunter.
„Wenn du gehen musst“, sagte ich heiser, „dann geh. Aber… lass mich bei dir sein.“
Es war der erste Satz, den ich so offen über den Tod seit dem Verlust meiner Frau aussprach.
Buddy seufzte, legte seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und blieb so, bis der Morgen dämmerte.
Ein paar Tage später fuhr ich noch einmal mit ihm zum See.
Die Luft war klar, ein leichter Nebel lag über der Wasseroberfläche. Wir gingen nur ein kleines Stück, setzten uns dann auf die Bank, auf der Ernst und ich früher gesessen hatten.
Buddy legte sich zu meinen Füßen, schloss die Augen. Sein Atem war flach, aber friedlich.
Ich holte das Foto aus der Jackentasche – Ernst, Buddy, die nassen Pfoten. Ich hielt es in der Hand, als wäre es eine Eintrittskarte in eine andere Zeit.
„Weißt du“, murmelte ich, „dein Herr hat mir damals gesagt, ich soll dich ins Tierheim bringen. Stattdessen hast du mich zurück ins Leben gebracht.“
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