Wie eine Mutter mit ihren letzten 8 Euro eine Entscheidung traf, die ein ganzes Viertel veränderte

Sie nahm den Bus zur Bundesstraße. Als der Bus um die Kurve bog, sah sie sie. Motorräder. Gleich mehrere, ordentlich nebeneinander geparkt vor dem Café.

Sinas erster Reflex: sitzenbleiben, sitzenbleiben, sitzenbleiben. Aber ihre Beine trugen sie wie von selbst nach draußen.

Vor dem Café standen vielleicht zehn Rocker, Männer mit Bärten und Frauen mit geflochtenen Zöpfen, alle in schwarzen Lederwesten mit dem gleichen Emblem. Manche rauchten, andere redeten leise miteinander. Als Sina ausstieg, drehten sich mehrere Köpfe zu ihr.

Einer der Männer – Marco – löste sich aus der Gruppe und kam ihr entgegen.

„Sina“, sagte er und lächelte zaghaft. „Danke, dass du gekommen bist.“

„Ich… wollte nur kurz…“, begann sie, aber ihre Stimme versagte.

„Rainer wartet drin“, sagte Marco. „Komm.“

Als sie das Café betrat, verstummte das Gemurmel. An fast jedem Tisch saßen Rocker in Westen. Sina fühlte sich klein zwischen all den breiten Schultern, den tätowierten Armen, den schweren Stiefeln.

Doch niemand pfiff, niemand lachte. Im Gegenteil: Als sie an den Tischen vorbeiging, standen einige auf. Ein älterer Rocker, der aussah, als hätte er schon viele Winter auf dem Motorrad erlebt, nahm sogar kurz die Mütze ab.

Sina verstand nicht, warum, aber es fühlte sich an wie ein stiller Gruß.

„Hier“, sagte Marco leise und führte sie zu einem Tisch in der Ecke.

Dort saß Rainer. Ohne Lederweste, aber mit dem gleichen wachen Blick wie gestern, nur jetzt klarer. Ein Verband lugte unter seinem Hemd hervor. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Tasse Kaffee, die Hände lagen gefaltet daneben.

Als er sie sah, stand er langsam auf. Man sah, dass ihm die Bewegung schmerzte.

„Frau Krämer“, sagte er mit rauer Stimme, „bitte setzen Sie sich.“

Sina rutschte auf die Bank. Marco zog sich diskret zurück.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie unsicher.

„Besser, als ich es verdient habe“, sagte Rainer und lächelte schief. „Die Ärzte sagen, wenn Sie mir gestern nicht diese Tabletten gegeben hätten, wäre ich heute nicht hier.“

Sina sah auf ihre Hände. „Es war Zufall. Ich war einfach da.“

„Es war kein Zufall“, entgegnete er ruhig. „Die meisten Menschen wären vorbeigegangen. Der Trucker, der Tankstellenmann – sie sind ja auch gegangen. Sie nicht.“

Einen Moment lang schwiegen sie. Durch die Scheibe sah man die geparkten Motorräder, die in der Wintersonne glitzerten.

Dann zog Rainer ein abgegriffenes Foto aus seiner Hemdtasche und schob es über den Tisch.

„Das ist der Grund, warum ich Sie unbedingt sehen wollte“, sagte er.

Auf dem Foto: ein jüngerer Rainer, ohne grauen Bart, daneben eine Frau und zwischen ihnen ein kleines Mädchen mit strahlenden Augen und viel zu großer Mütze.

„Das ist meine Tochter“, sagte Rainer leise. „Sie hieß Lilli.“

Sina sah ihn an. „Hieß?“, fragte sie vorsichtig.

Er nickte. „Leukämie. Sie war sieben, als sie gestorben ist. Wir hatten damals kein Geld. Ich war damals…“ – er deutete kurz auf seine alten Aufnäher – „…noch anders unterwegs. Andere Prioritäten. Die richtigen Medikamente, die spezielle Behandlung, all das war teuer. Zu teuer. Als wir endlich genug Geld zusammen hatten, war es zu spät.“

Sina schluckte. „Das tut mir leid.“

Rainer starrte einen Moment an ihr vorbei, als sähe er etwas, das nur er sehen konnte. „Als Lilli starb, habe ich mir geschworen: Wenn ich irgendwann gerade stehen kann, helfe ich jedem, der anderen hilft, obwohl er selbst nichts hat. Weil Lilli so war. Sie hätte ihr letztes Gummibärchen verschenkt, wenn jemand traurig geguckt hätte.“

Er sah Sina wieder an. „Und dann erzählen mir meine Leute, da stand gestern eine Frau an einer Tankstelle. Alle sagen: Geh weiter, das gibt Ärger. Und du nimmst deine letzten 8 Euro – das Frühstücksgeld deiner Tochter – und kaufst Aspirin und Wasser für einen wildfremden Kerl mit Tattoos.“

Sina wurde rot. „Ich will keine Heldin sein. Ich hab einfach…“

„…getan, was richtig war“, vollendete Rainer. „Genau das macht eine Heldin aus.“

Er lehnte sich zurück, atmete vorsichtig. „Ich leite seit ein paar Jahren etwas, das wir ‚Lillis Weg‘ nennen – ein Verein, eine Art Hilfsnetzwerk. Wir sammeln Geld, wir renovieren Wohnungen, bezahlen Medikamente, helfen Alleinerziehenden, die kurz davor sind, alles zu verlieren. Viele sehen nur die Motorräder und die Westen. Sie sehen nicht, was dahinter steckt.“

Sina hörte zu, unfähig, einzuordnen, was sie da gerade erfuhr.

„Gestern Nacht im Krankenhaus“, fuhr Rainer fort, „habe ich zu Marco gesagt: Findet diese Frau. Egal wie. Ich will sie kennenlernen.“

Er sah sie lange an. „Ich weiß, Sie haben Angst, dass Sie sich da in etwas verstrickt haben. Dass Ärger vor der Tür stehen könnte. Deshalb sage ich Ihnen jetzt etwas, das Sie sich merken sollen: Das Einzige, was Sie gestern ‚eingeladen‘ haben, ist Dankbarkeit.“

Sina wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

„Morgen früh“, sagte Rainer dann, „wird etwas passieren. Es wird laut werden. Menschen werden sich erschrecken. Du vielleicht auch. Aber ich bitte dich: Hab keine Angst. Vertrau mir.“

Sina runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“

Rainer lächelte ein wenig geheimnisvoll. „Du wirst es sehen. Und wenn du dann immer noch glaubst, du hättest einen Fehler gemacht, kannst du mir das ins Gesicht sagen. Aber ich bezweifle es.“

Er stand auf, schob einen Umschlag über den Tisch. „Für dein Busticket und Lenas Frühstück. Mehr nicht. Nimm es, bitte.“

Sina öffnete den Umschlag nicht. „Ich… ich weiß nicht…“

„Es sind 20 Euro“, sagte Rainer. „Kein Schweigegeld. Kein Handel. Nur ein kleines Danke von einem Mann, der heute nur deshalb auf zwei Beinen steht, weil du dich nicht abgewandt hast.“

Sie ließ den Umschlag schließlich in ihre Jackentasche gleiten.

Als sie das Café verließ, warteten die Rocker draußen. Keiner machte eine große Geste. Aber als sie an ihnen vorbeiging, nickte ihr jeder zu. Einer sagte: „Guter Mut, Frau.“ Mehr nicht.

Sina fuhr mit dem Bus nach Hause. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem Film gewesen.

Am nächsten Morgen wachte die Straße nicht mit Vogelgezwitscher auf, sondern mit einem tiefen Grollen, das die Fensterscheiben vibrieren ließ.

Sina schreckte hoch. Lena rannte ins Schlafzimmer. „Mama! Was ist das?“

Es klang wie Donner, der nicht aufhörte.

Sina lief zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und erstarrte.

Die ganze Straße war voll. Motorräder, Reihe um Reihe, sauber geparkt. Männer und Frauen in Westen, Helme unterm Arm, standen in Gruppen zusammen.

„Mein Gott“, flüsterte Sina.

Lena drückte sich an ihre Seite. „Sind das alle deine Freunde, Mama?“

„Nein“, brachte Sina heraus. „Aber… einer von ihnen kennt mich.“

Draußen öffneten sich Haustüren. Nachbarn traten auf die schwach beleuchteten Hausflure, spähten vorsichtig hinaus. Einige zogen ihre Kinder schnell wieder hinein, als hätten sie etwas Gefährliches gesehen.

Frau Neumann stand auf ihrem Balkon, das Telefon am Ohr. „Ja, hier in der Musterstraße. Alles voller Rocker. Ja, mit Motorrädern und Westen. Sie müssen kommen…“

Herr Yilmaz aus dem dritten Stock stapfte die Treppe herunter, das Gesicht rot vor Aufregung. Er blieb vor Sina stehen, die gerade Lena in die Jacke helfen wollte.

„Sina, was ist hier los?“, fuhr er sie an. „Sind die wegen dir hier?“

Andere Bewohner blieben im Treppenhaus stehen, lauschten.

„Ich… ich weiß es nicht genau“, stammelte Sina. „Ich war vorgestern bei…“

„Ich hab’s gewusst!“, rief Frau Neumann von oben. „Ich hab dir gesagt, deine Gutmütigkeit bringt uns noch allen Ärger ins Haus!“

„Meine Kinder wohnen hier!“, schrie eine Mutter aus dem Nachbarhaus. „Was, wenn da was passiert?“

Die Stimmen wurden lauter, vermischten sich. Lena klammerte sich an Sinas Hand. „Mama, ich hab Angst.“

Sina zog sie an sich. Ihr eigener Herzschlag dröhnte in den Ohren.

In diesem Moment löste sich eine Gruppe Rocker aus der Formation und kam langsam auf den Hauseingang zu. Vorneweg: Marco. Neben ihm – Rainer, noch etwas blass, aber aufrecht.

Die Nachbarn wichen zurück wie eine Welle, die an den Strand rollt und dann hastig wieder abfließt. Türen klappten zu, Rollläden klapperten. Auf einmal war es gespenstisch still. Nur das leise Knacken der abkühlenden Motorradmotoren war zu hören.

Sina spürte, wie sich alle Blicke auf sie richteten. Rainer blieb ein paar Schritte vor ihr stehen, sah in die Runde, dann sie an.

„Ich glaube“, sagte er ruhig, seine Stimme trug über den ganzen Hof, „es ist Zeit, dass wir reden.“

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