Ich dachte, die Geschichte mit Joachim würde im Supermarkt enden – bei siebzehn Euro vierzig und einer Tüte Pfefferminzbonbons. Aber ein paar Tage später stand ich selbst mitten in Gang 6, und mir wurde klar: Das hier war erst der Anfang.
Drei Tage waren vergangen, seit ich Joachim zwischen den Nudelsoßen gefunden hatte. Ich hatte wieder Wäsche gefaltet, Kartoffeln geschält, den Balkon gefegt. Alltag eben. Aber irgendetwas hatte sich verschoben. Als hätte jemand in meinem Kopf eine Lampe angeknipst, die vorher nur flackerte.
Ich bin seit neun Jahren Witwe. Ich weiß, wie sich stille Wohnungen anfühlen. Trotzdem hatte ich mir eingeredet, ich käme ganz gut zurecht. Ich hatte meine Routinen, meine Serien, meinen Spazierweg am Fluss. Doch seit Joachim mit seinem zitternden Einkaufszettel vor mir gestanden hatte, hörte ich die Stille zu Hause lauter als zuvor.
Am Mittwoch hing ein neuer Handzettel im Treppenhaus. „Nachbarschaftstreffen – Kaffee & Kuchen, Samstag 15 Uhr, Gemeinschaftsraum.“ Ich bin an solchen Zetteln immer vorbeigegangen. Zu jung für die Seniorengruppe, zu alt für die Familienrunde – das war meine Ausrede. Diesmal blieb ich stehen und las ihn zweimal.
Ich dachte an Joachim, wie er gesagt hatte: „Ich fühle mich unsichtbar.“
Und ich fragte mich zum ersten Mal ehrlich: Wie viele Joachim gibt es in meiner Straße?
Am Freitag musste ich wieder einkaufen. Ich nahm mir vor, nur schnell das Nötigste zu besorgen. Aber schon beim Betreten des Marktes spürte ich, wie meine Schritte langsamer wurden. Die Neonlichter, das Piepen der Kassen, das Murmeln der Stimmen, alles fühlte sich plötzlich an wie ein großes, unordentliches Wohnzimmer, in dem niemand weiß, wem er gehört.
Ich ertappte mich dabei, dass ich jeden älteren Menschen ansah. Ein Mann, der lange vor den Joghurtbechern stand. Eine Frau, die mit einer Lupe das Kleingedruckte auf einer Konservendose las. Eine Dame mit Rollator, die am Kühlregal nicht an die Butter kam. Früher hätte ich das alles gesehen und wieder vergessen.
Jetzt blieb ich stehen.
„Darf ich Ihnen die Butter runterreichen?“, fragte ich die Dame mit dem Rollator.
Sie lächelte überrascht. „Ach, das wäre nett.“
Es war keine große Geste. Es dauerte zehn Sekunden. Aber ihr „Das wäre nett“ hallte lange in mir nach.
Auf dem Weg zur Kasse blieb mein Blick am Info-Brett hängen, gleich neben der Leergut-Automaten-Ecke. Zwischen Babysitter-Gesuchen und „Klavierunterricht für Anfänger“ hing ein kleiner Zettel, fast überklebt von Werbezetteln: „Ehrenamtlich einkaufen für Senioren? Meldung an der Infotheke.“ Die Schrift war blass, als hätte ihn seit Wochen niemand beachtet.
Ich stand da wie damals bei Joachim, mitten im Gang, und mein Herz klopfte.
Ich musste nicht lange überlegen.
„Entschuldigung“, sagte ich an der Infotheke. „Dieser Zettel mit dem Einkaufen… gilt das noch?“
Die junge Frau hinter dem Tresen sah überrascht auf, dann strahlte sie. „Oh! Ja, den haben wir fast vergessen. Der stammt von einer Sozialarbeiterin aus dem Quartiersbüro, die wollte hier eine Liste auslegen. Aber… na ja, Sie sind die Erste, die fragt.“
Ich musste lachen, obwohl es mir ein bisschen wehtat. „Na, dann schreiben Sie meinen Namen drauf.“
Wir füllten ein einfaches Formular aus. Name, Telefonnummer, wann ich Zeit hätte. „Es geht nur darum, ab und zu jemandem beim Einkaufen zu helfen“, erklärte die Frau. „Oder mal mitzugehen, wenn die Person unsicher ist. Manchen wäre schon geholfen, wenn sie nicht allein an den Kassen stehen.“
Ich dachte an Joachim, wie er seine Karte fallen ließ. „Ja“, sagte ich. „Das habe ich verstanden.“
Samstag kam schneller, als mir lieb war. Der Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss roch nach Filterkaffee und Marmorkuchen. Es waren mehr Leute da, als ich erwartet hatte. Ein paar Frauen, die ich vom Sehen kannte. Zwei Männer, die sich verlegen an ihren Tassen festhielten. Eine junge Frau mit Ordnern unterm Arm stellte sich als Sozialarbeiterin vor.
Sie erzählte von der Idee: Spaziergänge, Einkaufshilfe, einfach „Dasein auf Abruf“. Sie sprach von Einsamkeit, Zahlen, Studien. Ich hörte halb zu. In meinem Kopf stand wieder Joachim im Supermarkt, wie er den Kassenzettel hielt, als wäre er ein Rettungsring.
„Möchte jemand erzählen, warum er heute hier ist?“, fragte die Sozialarbeiterin.
Es war einer dieser Momente, in denen alle gleichzeitig auf den Boden starren. Ich hörte mein Herz in den Ohren schlagen. Ehe ich mich versehe, hob ich die Hand.
„Ich“, sagte ich. Meine Stimme klang fremd laut. „Wegen einer Tomatensoße.“
Die anderen lachten unsicher. Ich erzählte ihnen von Joachim. Vom Zettel. Vom Nudelsoßen-Regal. Von seinem Satz: „Ich versuche, dass die Wohnung noch nach ihr riecht.“ Als ich das sagte, merkte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich wischte sie nicht weg.
Im Raum wurde es still. Kein Husten, kein Kaffeelöffel-Klirren. Nur dieses dichte Schweigen, wenn Menschen begreifen, dass etwas gerade wichtig ist.
„Ich habe lange als Krankenschwester gearbeitet“, fuhr ich fort. „Ich kenne die Geräusche von Maschinen, wenn ein Herz aufhört zu schlagen. Aber ich glaube, das leiseste Sterben passiert, wenn Menschen langsam unsichtbar werden. In Supermärkten. In Treppenhäusern. In ihren Wohnungen.“
Ich atmete tief durch. „Ich bin auch allein. Aber ich möchte nicht mehr so tun, als wäre das nur ‚mein Problem‘. Ich möchte, dass wir uns wieder sehen. Vielleicht fangen wir beim Einkaufen an. Dort, wo man die Unsichtbaren am leichtesten übersieht.“
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