Nach mir meldeten sich andere. Eine Frau erzählte von ihrem Vater, der seit dem Tod der Mutter nur noch vorm Fernseher saß. Ein Mann gestand, dass er seit seiner Scheidung kaum mit jemandem rede, außer mit der Kassiererin an der Tankstelle. Jemand schlug vor, eine kleine „Mitgeh-Liste“ zu machen, mit Telefonnummern und Zeiten.
Am Ende des Treffens ging eine einfache DIN-A4-Liste herum: „Begleitung beim Einkauf – Ich kann / Ich brauche“. Ich schrieb zweimal meinen Namen auf – einmal unter „Kann“ und, nach kurzem Zögern, einmal unter „Brauche“.
„Sie brauchen Hilfe?“, fragte die Sozialarbeiterin leise, als sie meine Eintragung sah.
Ich lächelte. „Manchmal ja. Vielleicht nicht beim Tragen. Aber beim Nicht-unsichtbar-Sein.“
In den Wochen danach veränderte sich mein Blick auf die Stadt. Ich ging weiterhin in denselben Supermarkt, aber die Gänge waren nicht mehr nur Reihen von Produkten. Sie waren kleine Bühnen von Geschichten, die niemand wirklich sah.
Ich half Herrn Klein aus dem dritten Stock, der seine Lesebrille immer vergaß. Ich ging mit Frau Hübner, die Angst vor den Selbstbedienungskassen hatte und wir beschlossen einfach, weiter zur bemannten Kasse zu gehen, egal wie lang die Schlange war.
Ich traf Joachim nicht sofort wieder. Aber jedes Mal, wenn ich an der Tomatensoße vorbeikam, blieb ich kurz stehen und schielte nach einem ordentlich gebügelten Hemd und polierten Schuhen.
Eines Tages, es war ein grauer Dienstag kurz vor Ladenschluss, hörte ich hinter mir eine zögerliche Stimme: „Entschuldigen Sie… Sind Sie nicht Monika?“
Ich drehte mich um. Da stand er. Ohne Einkaufszettel, aber mit einem kleinen Korb am Arm. Seine Hände zitterten weniger. In seinen Augen lag immer noch Traurigkeit, aber darüber lag etwas Neues: ein Vorsichtshauch von Zuversicht.
„Joachim“, sagte ich. „Sie haben den Weg zurückgefunden.“
Er lächelte schief. „Die Soße mache ich jetzt jeden Sonntag. Es riecht… nicht mehr ganz wie früher. Aber ein bisschen. Und ich dachte, wenn ich heute wieder verzweifle, dann…“, er zögerte, „…dann vielleicht sind Sie ja wieder da.“
Ich musste lachen und schlucken gleichzeitig. „Heute verzweifeln wir einfach gemeinsam weniger“, sagte ich. „Und wenn Sie möchten, kommen Sie nächstes Mal mit zum Nachbarschaftskaffee. Da gibt es auch Pfefferminzbonbons.“
Er sah mich lange an. „Vielleicht“, sagte er schließlich. „Vielleicht ist es Zeit, dass die Wohnung nicht nur nach gestern riecht, sondern auch ein bisschen nach morgen.“
Wir gingen zusammen weiter zum Nudelgang. Die Leute rauschten an uns vorbei, Wagen klapperten, irgendwo weinte ein Kind. Die Welt war genauso laut und hektisch wie vorher.
Aber zwischen Tomatensoße und Haferflocken standen zwei Menschen, die beschlossen hatten, einander nicht länger zu übersehen.
Manchmal beginnt Veränderung nicht mit großen Reden oder neuen Gesetzen. Manchmal beginnt sie damit, dass du im Supermarkt stehenbleibst, dein Handy in die Tasche steckst und sagst: „Ich habe es heute nicht eilig. Lassen Sie uns Ihre Soße finden.“






