„Nur eine Pflegekraft.“ — Und deshalb habe ich nach 42 Jahren aufgehört.
Nach 15.695 Tagen war es nicht die körperliche Erschöpfung, die mich gehen ließ.
Es waren drei Worte:
„Können Sie sich mal beeilen? Sie sind doch nur eine Pflegekraft.“
Ein Mann Mitte vierzig, die Augen an sein Smartphone geheftet, genervt davon, dass ich seine lebenswichtige Medikation ein drittes Mal überprüfte.
Er sah mich nicht einmal an.
Nur eine Pflegekraft.
Ich beendete den Zugang, scannte sein Armband und verließ das Zimmer. Meine Hände waren ruhig. Ich ging direkt zum Dienstzimmer der Stationsleitung und sprach die zwei Worte aus, die ich jahrelang nicht über die Lippen brachte, nicht während der Pandemie, nicht nach endlosen Zwölf-Stunden-Schichten, nicht nach den Momenten, in denen ich fast zusammengebrochen wäre:
„Ich kündige.“
Mein Name ist Margarete, für alle Maggi.
Heute war mein letzter Dienst im Klinikum, nach 42 Jahren.
Es ist kein Ruhestand.
Es ist eine Flucht.
Ich trat 1982 zum ersten Mal durch diese Türen.
Frisch aus der Ausbildung, mit viel zu steifen weißen Hosen und einem Glauben, hell und trotzig, dass Pflege ein Ruf sei. Die Flure rochen nach Kaffee und Desinfektionsmittel. Wir lernten von gestandenen Kolleginnen, die eine Infektion schon aus drei Metern Entfernung spürten.
Wir verließen uns nicht auf Systeme.
Wir verließen uns auf Augen, Hände und Intuition.
Ich fühlte Fieber, bevor das Thermometer es zeigte. Ich hörte Angst in Stimmen, die kaum über ein Flüstern hinausgingen. Ich hielt die Hand eines Bauarbeiters, während er vor Schmerzen zusammenzuckte. Ich saß nachts um drei bei einer älteren Dame, damit sie nicht allein weinte.
Die Arbeit war hart.
Ich habe Wunden gesehen, die starke Menschen bleich machten.
Ich habe Babys gehalten, die niemals leben durften.
Ich habe in Abstellräumen geweint, die Stirn an kaltem Metall, betend um zehn Minuten mehr Kraft.
Doch die Freude war größer.
Wie bei Herrn Kowski, der vor seiner OP panisch war und meinen Arm packte:
„Maggi, lassen Sie die jungen Ärzte keinen Unsinn machen.“
Als er entlassen wurde, drückte er mir ein altes Foto aus seiner Ausbildungszeit in die Hand.
„Sie waren tapferer als mein Ausbilder.“
Das war unser Lohn: Vertrauen.
Irgendwann kippte etwas.
Vielleicht als die Papierakten verschwanden und digitale Dokumentation unser Denken fraß. Plötzlich blickte ich weniger in Gesichter und mehr auf Bildschirme.
Klick. Schmerzskala?
Klick. Zufriedenheit?
Klick. Abrechnungskennzahl?
Es gibt keinen Button für die menschliche Seele.
Das Klinikum begann immer weniger nach Kaffee zu riechen und immer mehr nach Hektik, Alarmen, Aufgabenlisten. „Effizienz“ wurde wichtiger als Nähe. Wir waren keine Pflegenden mehr, sondern Ressourcen in Tabellen.
Dann kam 2020.
Die Pandemie war kein Feuer.
Sie war ein Beben, das alles zerbrach.
Wir trugen Masken, die unsere Haut wund scheuerten. Aßen Müsliriegel in Treppenhäusern. Hörten Beatmungsgeräte tage- und nächtelang seufzen.
Ich hielt Tablets, damit Familien sich verabschieden konnten.
Ich sagte hunderte Male „Sie sind nicht allein“, weil es sonst niemand sagen durfte.
Ich verschloss auch die Beutel von Menschen, die ich kannte.
Wir weinten dort, wo es niemand sah.
Die Welt klatschte für uns.
Aber Beifall heilt keine Erschöpfung.
Dann ging die Welt weiter, aber unser System nicht.
Es bröckelte.
Patienten wurden ungeduldiger.
Wertschätzung verschwand wie Dampf.
Und so stand ich heute wieder bei dem Mann mit dem Smartphone.
Dem Mann, der mich früher vielleicht „Heldin“ genannt hätte.
„Nur eine Pflegekraft.“
Er meinte es nicht böse.
Er sprach nur aus, was das System längst glaubt:
Wir sind Funktionen.
Kostenpunkte.
Ersetzbar.
Als ich meinen alten Spind ausräumte, fand ich ein Foto meiner Abschlussklasse. Junge Gesichter, voller Mut, voller Hoffnung, überzeugt davon, die Welt verändern zu können.
Jetzt sitze ich im Auto, der Motor ist aus, und ich habe Angst.
Pflege war nicht nur das, was ich tat — sondern das, was ich war.
Wer bin ich ohne das?
Vor allem bin ich traurig.
Traurig um einen Beruf, der seine Seele verliert.
Traurig um junge Kolleginnen und Kollegen, die von Bildschirmen lernen statt von Menschen.
Traurig um Patientinnen und Patienten, die mehr verdienen als einen eiligen Blick zwischen zwei Alarmen.
Eine Maschine kann Vitalwerte messen.
Ein Roboter kann Medikamente bringen.
Aber keine Maschine hält eine zitternde Hand.
Keine Software tröstet Sterbende.
Mitgefühl kann man nicht programmieren.
Ich lege mein Stethoskop ab.
Aber die Erinnerungen an all die Hände, die ich gehalten habe, nehme ich mit.
An alle, die in Kliniken und Pflegeeinrichtungen arbeiten:
Ihr seid niemals „nur“ irgendetwas.
Ihr seid das Herz eines Systems, das vergessen hat, wie man wirklich Mensch ist.
Und an alle anderen:
Seid freundlich.
Denn der Mensch, der eines Tages zwischen euch und dem Tod steht, ist auch nur ein Mensch und er ist viel mehr als „nur eine Pflegekraft“.
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