Wie ich nach 42 Jahren Pflege erkannte, dass Menschlichkeit kein Luxus sein darf

Ich erwartete nichts.

Vielleicht eine automatische Antwort, vielleicht gar nichts.

Aber etwas in mir fühlte sich leichter an, allein weil ich diese Worte aus mir herausgelassen hatte.

Drei Tage später klingelte mein Handy.

Eine unbekannte Nummer.

„Frau… Margarete?“, eine freundliche Stimme. „Hier ist die Redaktion. Wir haben Ihren Text gelesen. Darf ich Sie etwas fragen: Dürfen wir das veröffentlichen?“

Mein Herz schlug schneller, als hätte jemand mein Stethoskop wieder eingeschaltet.

„Wenn Sie damit erreichen, dass wenigstens ein Mensch seine Worte überdenkt, bevor er ‚nur eine Pflegekraft‘ sagt, dann ja“, antwortete ich.

Der Text wurde veröffentlicht.

Ich habe keinen Fernseherauftritt bekommen, keine große Bühne.

Aber mein Postfach füllte sich.

Nachrichten von Pflegenden aus anderen Kliniken, von Angehörigen, von Menschen, die sich entschuldigten, weil sie „auch schon mal ungeduldig“ gewesen seien.

Eine Nachricht hat mich besonders getroffen.

Sie kam von einer Frau Anfang fünfzig.

Ihr Mann sei vor zwei Jahren auf unserer Station gestorben.

Sie schrieb: „Ich weiß nicht, ob Sie damals Dienst hatten, aber eine Schwester hat mir in der Nacht einen Stuhl an sein Bett geschoben, mir Tee gebracht und gesagt: ‚Sie dürfen ruhig weinen.‘

Wenn das Sie waren: Danke.

Wenn nicht: Bitte geben Sie es weiter.“

Ich saß da, das Handy in der Hand, und plötzlich liefen mir nach all den kontrollierten Jahren die Tränen einfach übers Gesicht.

Nicht aus Erschöpfung.

Aus Erleichterung.

Vielleicht hatte ich das Klinikum verlassen.

Aber die Pflege hatte mich nicht verlassen.

Ich begann, an Schulen und in Ausbildungsstätten kleine Vorträge zu halten.

Nicht über Medikamente oder Dokumentationssysteme.

Über Nähe, über Grenzen, über das Recht, müde zu sein, ohne sich zu schämen.

Ich erzählte den jungen Leuten von Lena, von den Nächten der Pandemie, von dem Gefühl, unsichtbar zu werden, wenn man nur noch als „Ressource“ geführt wird.

Und ich sagte ihnen jedes Mal:

„Wenn ihr irgendwann an dem Punkt seid, an dem ihr im Treppenhaus steht und denkt: ‚Ich kann nicht mehr‘ – dann seid ihr nicht schwach. Ihr seid Menschen. Sucht euch Hilfe, bevor ihr brecht.“

Lena kommt mich inzwischen manchmal nach dem Dienst besuchen.

Wir sitzen dann auf meinem Balkon, trinken Tee aus viel zu großen Tassen und reden über alles Mögliche.

Manchmal schweigen wir auch.

Sie bleibt noch in der Pflege.

Sie will kämpfen, sagt sie.

Aber sie tut es mit offenen Augen, nicht mehr mit der naiven Hoffnung, dass das System sie schützt.

Ich weiß nicht, ob sich durch meinen Brief, durch meine Worte, wirklich etwas Großes verändert.

Vielleicht sind es nur kleine Wellen in einem riesigen Meer.

Aber ich habe begriffen:

Ich musste das Klinikum verlassen, um wieder zu verstehen, warum ich damals durch diese Türen gegangen bin.

Nicht wegen der Hierarchien.

Nicht wegen der Dienstpläne.

Sondern wegen der Menschen.

Heute halte ich andere Hände.

Die meiner Enkelin, wenn sie beim Spazierengehen über die Bordsteinkante balanciert.

Die meiner Nachbarin, wenn sie mir zum zehnten Mal von ihrem verstorbenen Mann erzählt, weil die Erinnerung langsam ausfranst.

Die von Lena, wenn sie sich verabschiedet und sagt: „Danke, dass du noch da bist, Maggi, auch wenn du nicht mehr im Klinikum bist.“

Vielleicht bin ich keine „Pflegekraft“ mehr auf dem Papier.

Aber ich bin immer noch Pflege.

Nur anders.

Langsamer.

Freier.

Und eines wünsche ich mir, falls du bis hierher gelesen hast:

Dass du beim nächsten Mal, wenn jemand vor dir steht, der dir Blut abnimmt, dir eine Infusion legt oder dir die Bettdecke zurechtrückt, einen Moment länger hinsiehst.

Dass du erkennst:

Da steht kein „nur“.

Da steht ein Mensch, der dich hält, während du schwach bist.

Ein Mensch, der mehr verdient als ein genervtes „Beeilen Sie sich“.

Vielleicht sorgt das nicht für Applaus.

Aber für etwas, das wir dringender brauchen.

Respekt.

Und der kann ein System nicht retten.

Aber er kann dafür sorgen, dass die Menschen darin nicht ganz daran zerbrechen.

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