Die Rechnung betrug 10.000 Euro. Der Hund war ein alter Mischling aus dem Tierschutz. Die Besitzerin, ein junges Mädchen mit Kellner-Schürze, zitterte am ganzen Leib.
Sie starrte auf den Kostenvoranschlag, dann mich an, mit Panik in den Augen.
„Ich habe nur 400 Euro“, flüsterte sie. „Meine Miete ist überfällig. Kann ich… kann ich in Raten zahlen?“
Das ist mein Job heute. Ich bin nicht nur Tierarzt. Ich bin ein Finanzberater mit Stethoskop, der anhand der Bonität entscheidet, wer leben darf.
Früher war das anders. Ich bin seit 40 Jahren Tierarzt. Vier Jahrzehnte Blut unter den Fingernägeln, Tierhaare auf der Kleidung und der Geruch von Angst in der Nase.
Ich fing 1985 an, frisch von der Uni. Meine erste Praxis war in einer umgebauten Scheune in einem kleinen Dorf. Das Dach war undicht, das Telefon hatte noch eine Wählscheibe.
Aber die Leute kamen. Bauern, Handwerker, Lehrer. Sie hatten nicht viel, aber sie zahlten, was sie konnten.
Frau Müller bezahlte die Kastration ihrer Katze mit sechs Gläsern Erdbeermarmelade. Der alte Herr Schmidt bezahlte die Medikamente für seinen Hund mit einer Fuhre Brennholz für den Winter.
Wir hatten keine Finanzierungspläne. Wir hatten Vertrauen.
Wir impften. Wir richteten Knochen. Und wir schenkten Frieden, wenn es Zeit war.
Wenn es Zeit war, wussten wir es einfach. Es gab keine Diskussionen über „alternative Methoden“ aus dem Internet. Es war ein stilles Einverständnis zwischen Mensch und Tier, dass das Leiden zu groß geworden war.
Wir knieten Seite an Seite auf dem kalten Boden und hielten Wache.
Heute? Heute reiche ich ihnen eine laminierte Speisekarte mit Einäscherungsoptionen.
Einen „Pfotenabdruck in Ton“ für 75 Euro extra? Es fühlt sich an, als würde man Trauer verkaufen.
Vor allem kämpfen wir heute nicht mehr nur gegen Krankheiten. Wir kämpfen gegen Algorithmen.
Letzte Woche kam eine Frau mit einer Bulldogge, die kaum noch atmen konnte. Sie erstickte fast. Ich sagte, wir müssen sofort operieren.
Sie hielt ihr Handy hoch.
„Warten Sie“, sagte sie. „Ich warte noch auf die Antwort meiner Facebook-Gruppe. Die sagen, ich soll es erst mal mit Honig versuchen.“
Ich sah sie an. Ich sah den Hund an, dessen Zunge schon blau anlief.
„Gute Frau“, sagte ich, „Ihr Hund stirbt gerade. Jetzt, in diesem Moment. Die Facebook-Gruppe ist nicht hier in diesem Raum.“
Ich wollte während der Pandemie fast aufhören. Tiere durch Autofenster entgegennehmen. Diagnosen über den Verkehrslärm hinweg schreien. Es hat etwas in uns allen zerbrochen.
Aber dann…
Ein kleines Mädchen kommt mit einem Schuhkarton herein und weint um einen halbtoten Spatz. Ihre Augen leuchten voller Hoffnung, als ich sage: „Lass uns sehen, was wir tun können.“
Ein tätowierter LKW-Fahrer bricht zusammen und umarmt mich, weil ich seinen 15 Jahre alten, einäugigen Chihuahua gerettet habe.
Eine Rentnerin, die jeden Cent zweimal umdrehen muss, bringt mir ein Glas selbstgemachtes Apfelmus, nur weil ich ihr zugehört habe, nachdem ihre Katze gestorben war.
Deshalb bleibe ich.
Denn trotz der Online-Bewertungen und der Diskussionen im Wartezimmer ist eines immer noch wahr: Menschen lieben ihre Tiere mit einer Kraft, die jeder Logik widerspricht.
Wenn diese Liebe echt ist, ist sie das Stillste im Raum. Eine zitternde Hand auf einem verfilzten Fell. Ein geflüstertes „Guter Junge“ für einen Hund, der nichts mehr hören kann.
Letzten Monat kam ein Mann herein. Er sah aus, als hätte er eine Woche lang in seinem Auto geschlafen.
Er trug einen alten Stoffbeutel. Darin war ein Kätzchen, vielleicht fünf Wochen alt. Ein gebrochenes Bein, die Augen verklebt.
Er legte es auf den Tresen. Er sah mich nicht an.
„Ich habe gerade erst wieder Tritt gefasst“, murmelte er. „Ich habe keinen Euro. Ich habe meine letzten paar Münzen für den Bus hierher ausgegeben. Aber… können Sie ihm helfen?“
Ich nickte. „Lassen Sie ihn hier. Kommen Sie am Freitag wieder.“
Wir richteten das Bein. Wir reinigten die Augen. Wir nannten ihn „Krümel“.
Der Mann kam am Freitag zurück, in einem sauberen Hemd.
Er reichte mir einen zerknitterten 5-Euro-Schein.
Er sagte: „Niemand hat mir je etwas anvertraut.“
Ich schob den Schein zurück in seine Hand.
„Tiere interessieren sich nicht für die Fehler, die du gemacht hast“, sagte ich ihm. „Sie interessieren sich nur für die Freundlichkeit, die du zeigst. Du hast sie gezeigt. Wir kümmern uns um den Rest. Er ist deine Katze.“
In meinem Büro steht ein alter Aktenschrank. Die unterste Schublade ist voll mit Erinnerungen. Alte Halsbänder. Dankeskarten, mit Buntstiften gemalt. Unscharfe Fotos aus den 90ern.
Ich öffne sie manchmal spät abends, wenn die Praxis dunkel ist. Wenn ich merke, dass ich hart werde. Wenn ich anfange, Patienten nur als Rechnungen zu sehen.
Ich öffne diese Schublade. Und ich erinnere mich.
Ich erinnere mich daran, wie es war, bevor es Google-Rezensionen gab. Als wir noch mit Angelschnur und Gebeten nähten.
Wenn mich dieses Leben eines gelehrt hat, dann das:
Du kannst sie nicht alle retten. Das kannst du einfach nicht. Die Biologie, das Geld, die Zeit… du wirst scheitern.
Aber verdammt noch mal, du musst es versuchen.
Und wenn das Versuchen vorbei ist und es Zeit ist, Abschied zu nehmen, hast du eine letzte, heilige Pflicht.
Du bleibst. Du schaust nicht auf die Uhr. Du eilst nicht. Du kniest auf diesem kalten, harten Boden, legst deine Hände auf sie und schaust ihnen in die Augen, wenn sie gehen.
Du bleibst, bis der letzte Atemzug ihren Körper verlässt.
Das ist die letzte Freundlichkeit.
Das ist der Teil, auf den dich niemand vorbereitet.
Es ist der Teil, der dich jedes Mal ein Stück deiner eigenen Seele kostet.
Aber es ist der einzige Teil, der uns menschlich macht.
Weiter zu 🐾 Teil 2 ⏬⏬






