Wie man bleibt, wenn alle gehen: Zwei Generationen Tierliebe zwischen Schuld, Mut und Menschlichkeit

Wenn Sie wissen wollen, was aus dem Mädchen mit dem alten Mischling und der 10.000-Euro-Rechnung geworden ist, dann ist das hier der Teil, den niemand auf den Hochglanzseiten der Tierarzt-Werbeflyer druckt.

Als sie an diesem Tag vor mir stand, mit dem Kostenvoranschlag in der Hand, sah ich eigentlich zwei Patienten.

Den Hund.

Und das Mädchen.

Der Hund hieß „Balu“, wie ich später erfuhr. Herz, Nieren, Tumor im Bauch, kaputte Zähne, Arthrose – ein ganzes Lehrbuch voller Diagnosen in einem einzigen Körper. Er war müde. Er atmete schwer. Aber seine Augen suchten ihr Gesicht, jedes Mal, wenn sie sich bewegte.

Sie flüsterte:

„Er ist alles, was ich habe.“

Das steht in keinem Laborbericht.

Da gibt es kein Feld zum Ankreuzen bei „emotionaler Wert“.

Ich sah auf die 10.000 Euro.

Ich sah auf ihre Hände, die sich in die Papiere krallten.

Ich sah auf die Schürze, noch mit Ketchup-Flecken vom letzten Spätdienst.

„Setzen Sie sich“, sagte ich. „Wir fangen ganz vorne an.“

In der Theorie ist das einfach: Man erklärt alle Optionen, von „volle Diagnostik“ bis „nur Schmerztherapie“ bis „Euthanasie“. Man lässt die Leute entscheiden. Autonomie, informierte Zustimmung, das ganze Programm.

In der Realität sitzt da ein Mensch, der seit drei Nächten nicht geschlafen hat, weil der Hund jede Stunde jault vor Schmerzen.

In der Realität sitzt da jemand, der sich vor Scham fast übergibt, weil er weiß, dass er sich das, was „gut“ wäre, niemals leisten kann.

„Ich kann nicht mal meine Miete zahlen“, sagte sie leise. „Aber ich kann ihn doch nicht einfach… weggeben.“

Sie brachte das Wort nicht über die Lippen.

Das ist der Moment, den die Leute im Wartezimmer später nie sehen.

Sie sehen nur die Zahl auf der Rechnung und schreiben dann im Internet:

„Unmenschlich, nur ans Geld gedacht.“

Ich setzte mich ihr gegenüber.

„Hören Sie“, sagte ich. „Zuerst müssen wir eine Frage beantworten, die kein Geld der Welt lösen kann: Wofür kämpfen wir hier? Für Lebensverlängerung um jeden Preis? Oder für weniger Schmerzen? Für Lebensqualität oder fürs schlechte Gewissen?“

Sie schwieg.

Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf den Kostenvoranschlag.

Balu legte den Kopf auf ihren Schuh.

„Wenn er Ihr Hund wäre“, flüsterte sie, „was würden Sie tun?“

Diese Frage hasse ich.

Nicht, weil sie unfair ist.

Sondern weil sie ehrlich ist.

Ich atmete tief durch.

„Wenn er mein Hund wäre“, sagte ich langsam, „würde ich zwei Dinge tun. Ich würde alles tun, um ihm die Schmerzen zu nehmen. Und ich würde sehr genau aufpassen, ob ich das gerade für ihn tue – oder für mich.“

Wir gingen die Positionen durch.

Blutbilder, Ultraschall, CT, mehrfache Operationen, Intensivstation.

Jede Zeile eine theoretische Chance.

Jede Zeile ein weiterer Stein auf ihrer Brust.

„Und wenn wir… nur die Schmerzen nehmen?“, fragte sie schließlich. „Kein großes Programm. Nur… dass er nicht mehr leidet.“

Ich nickte.

„Das können wir. Wir können ihm Luft verschaffen. Wir können die Entzündungen dämpfen. Wir können ihm ein paar gute Tage schenken. Ob es Wochen werden, weiß ich nicht. Aber wir können dafür sorgen, dass er nach all dem keine Panik hat.“

Sie sah mich an, als hätte ich ihr den Boden unter den Füßen weggezogen und gleichzeitig eine Hand hingestreckt.

„Was kostet das?“, fragte sie.

Ich rechnete im Kopf.

Material.

Medikamente.

Zeit.

Und dann – ehrlich gesagt – mein eigenes Gewissen.

Ich nannte ihr eine Summe, die ich in meiner Buchhaltungssoftware später unter „Rabatt“ verbuchen würde.

Sie biss sich auf die Lippe.

„Das… könnte ich vielleicht schaffen. Wenn ich diesen Monat bei mir etwas kürzer trete.“

„Und wenn Sie es nicht schaffen“, sagte ich, „dann reden Sie mit mir. Aber eines verspreche ich Ihnen: Wir werden ihn nicht leiden lassen, nur weil irgendwo eine Zahl in Rot steht.“

Ich hätte ein Foto von diesem Moment machen sollen.

Nicht für Social Media.

Für mich.

Sie strich Balu über den Kopf.

Zum ersten Mal in dieser ganzen Zeit sah ich so etwas wie Erleichterung in ihrem Gesicht – gemischt mit unfassbarer Traurigkeit.

Wir gaben ihm Schmerzmittel, ein beruhigendes Mittel, wir legten eine Infusion.

Er atmete ruhiger.

Er schlief ein.

Nur diesmal nicht für immer.

Als sie später ging, die Medikamente in einer Papiertüte, blieb sie noch einmal an der Tür stehen.

„Werde ich eine schlechte Hundemama sein“, fragte sie, „wenn ich irgendwann sage: Es geht nicht mehr?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Schlechte Hundemenschen sind die, die wegschauen, wenn ein Tier leidet. Sie schauen hin. Das ist das Schwerste.“

Nachdem sie gegangen war, stand ich einen Moment allein im Behandlungszimmer.

Der Geruch von Desinfektionsmittel, Plastik, Medikamenten.

Und irgendwo der leichte Hauch von Hund.

Ich dachte an meine Kollegen.

An die Burnout-Statistiken.

An die Geschichten von Tierärzten, die sich das Leben genommen haben, weil sie den Spagat zwischen Mitgefühl und Mahnungen nicht mehr ausgehalten haben.

Wir reden viel über die Liebe zu Tieren.

Zu wenig darüber, was diese Liebe mit den Menschen macht, die jeden Tag zwischen Leben, Tod und Dispo-Limit stehen.

Abends zu Hause las ich – gegen meine eigenen Vorsätze – die Online-Bewertungen der Praxis.

„Abzocke.“

„Nur Geld im Kopf.“

„Die wollten mir eine OP aufschwatzen!“

Niemand erwähnte den Mann mit dem Kätzchen, dem ich die 5 Euro zurückgegeben hatte.

Niemand erwähnte die Rentnerin mit dem Apfelmus.

Niemand erwähnte, dass ich an diesem Tag drei Mal länger im Zimmer geblieben war, nur damit niemand alleine Abschied nehmen musste.

Ich legte das Handy weg.

Ich machte mir einen Tee.

Meine Hände zitterten leicht.

Am nächsten Morgen lag ein Umschlag auf dem Tresen der Praxis.

Kein Absender.

Innen ein handgeschriebener Zettel und ein einzelner Fünfzig-Euro-Schein.

Auf dem Zettel stand:

„Für jemanden, der es braucht. Vielleicht eine Kellnerin mit einem alten Hund. Danke, dass Sie bleiben, wenn andere gehen.“

Kein Name.

Keine Nummer.

Nur diese, etwas schiefe Schrift.

Ich legte den Schein in eine kleine Kiste in meinem Schreibtisch.

Die Kiste ist meine inoffizielle „Notfallkasse“.

Sie ist nicht steuerlich absetzbar.

Sie ist nicht wirtschaftlich sinnvoll.

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