🐾 Teil 4: Das Flüstern im Dunkeln
Hildegard stand reglos, das Foto noch in den Händen, als das Geräusch hinter ihr lauter wurde. Schritte auf morschem Holz, schwer und vorsichtig zugleich. Der Hund knurrte tief, die Lefzen leicht hochgezogen, bereit, sich zwischen sie und die Dunkelheit zu stellen.
Die Taschenlampe flackerte, doch sie richtete den Strahl nach hinten. Im Kegel des Lichts erschien eine Gestalt, gebeugt, in einen langen Mantel gehüllt. Ein Gesicht war nicht sofort zu erkennen, nur die Konturen eines Mannes, vielleicht sechzig, vielleicht älter. Seine Augen glänzten im Dunkeln, als hätten sie gelernt, lange zu warten.
„Wer sind Sie?“ rief Hildegard, ihre Stimme schwankte zwischen Mut und Furcht.
Der Mann blieb stehen. Sein Atem war hörbar, schwer, keuchend. Dann sagte er leise: „Sie haben gefunden, was nicht für Sie bestimmt war.“
Das Licht zitterte in ihrer Hand. Der Hund stellte sich vor die Truhe, als wisse er, dass das Foto und die Briefe mehr waren als alte Papiere. Hildegard spürte, dass sie am Rand einer Wahrheit stand, die sie kaum zu tragen vermochte.
„Gehört Ihnen das Haus?“ fragte sie, um ihre Angst zu übertönen.
Der Mann trat näher, sein Gesicht kam ins Licht. Ein schmales, eingefallenes Gesicht, grauer Bart, tiefe Falten. Seine Augen jedoch lebendig, unruhig, als hätten sie zu viele Nächte ohne Schlaf gesehen.
„Es gehörte meinem Bruder,“ sagte er. „Reinhard Klose.“
Hildegards Atem stockte. Das R am Halsband, der Name aus dem Archiv, die Spur in der Zeitung – alles fügte sich zusammen.
„Und Sie?“ fragte sie.
„Mein Name ist Wilhelm,“ antwortete der Mann. „Ich habe ihn gesucht. Jahrelang. Aber er ist nie zurückgekommen. Der Hund hier… er hat länger gewartet als jeder Mensch.“
Hildegard senkte den Blick zu dem Tier. Es sah Wilhelm an, und in diesem Blick lag kein Erkennen, sondern etwas anderes – eine Prüfung, ein Misstrauen. Der Hund wich nicht zurück, aber er entspannte sich auch nicht.
„Was ist mit Reinhard geschehen?“ fragte Hildegard leise.
Wilhelm setzte sich schwer auf einen alten Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte. „Niemand weiß es. Er verließ eines Abends das Haus, so wie er es immer tat. Zum Bahnhof. Und er kam nicht zurück. Kein Brief, kein Anruf, keine Spur. Nur der Hund blieb. Er wartete am Gleis, Nacht für Nacht. So wie Sie ihn heute kennen.“
Die Worte hallten durch den Raum wie ein Urteil. Hildegard spürte, wie sie innerlich bebte.
„Aber warum sind Sie hier?“ fragte sie.
Wilhelm sah sie an, und in seinen Augen lag ein Funkeln, das zwischen Zorn und Trauer schwankte. „Weil ich gehofft habe, dass er irgendwann wiederkommt. Ich habe die Tür nie endgültig verschlossen. Ich habe seine Sachen nicht weggeworfen. Manche sagen, ich sei verrückt. Aber was bleibt einem, wenn Blut und Erinnerung das Einzige sind, was man hat?“
Der Hund trat einen Schritt vor, als wolle er prüfen, ob in den Worten Wahrheit lag. Dann setzte er sich nieder, genau zwischen Hildegard und Wilhelm.
Hildegard hob das Foto. „Ist das Reinhard?“
Wilhelm nickte. „Ja. Sommer achtzigsechs. Damals war er noch stark, voll von Plänen. Er sprach von einer Reise, von einem Neuanfang. Doch dann blieb er hier. Vielleicht hat ihn etwas zurückgehalten. Vielleicht war es der Hund.“
„Wie heißt er?“ fragte Hildegard.
„Branko,“ sagte Wilhelm. „Ein Name, den mein Bruder selbst gewählt hat. Er sagte immer, Branko sei mehr als ein Hund. Er sei ein Gefährte.“
Branko. Endlich hatte der Hund einen Namen. Hildegard wiederholte ihn leise, und der Hund hob den Kopf, als hätte er nur darauf gewartet, wiedererkannt zu werden. Zum ersten Mal spürte sie, wie sich zwischen ihnen ein Band spannte, unsichtbar und doch stark.
Die Luft im Haus war schwer. Wilhelm wirkte wie ein Mann, der am Ende seiner Kraft angekommen war. „Ich habe gehofft,“ sagte er schließlich, „dass jemand wie Sie kommt. Jemand, der Fragen stellt. Denn meine eigenen Fragen bleiben unbeantwortet. Vielleicht bringt das Schicksal manchmal Fremde zusammen, damit die Vergangenheit nicht ganz stirbt.“
Hildegard wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte. Doch sie sah die Erschöpfung in seinem Gesicht, die Last von Jahrzehnten. Vielleicht war er tatsächlich nur ein Bruder, der nicht loslassen konnte.
„Ich will wissen, was damals geschah,“ sagte sie entschlossen. „Und ich glaube, Branko weiß es auch. Er führt uns immer wieder hierher, als wolle er uns etwas zeigen.“
Wilhelm schüttelte den Kopf. „Ein Hund lebt von Erinnerung, aber er spricht nicht. Alles, was wir sehen, sind seine Augen. Und in denen liegt nur Warten.“
Draußen heulte der Wind. Das Dach knackte, Schnee fiel vom Gebälk. Die Dunkelheit drängte sich dichter um das Haus, als wolle sie alle Geheimnisse verschlingen.
„Ich komme morgen wieder,“ sagte Hildegard, als sie aufstand. „Es gibt Antworten, Wilhelm. Wir müssen sie finden.“
Sie verließ das Haus, Branko dicht an ihrer Seite. Ihre Schritte knirschten im Schnee, und in ihrem Innern wuchs ein Gefühl, das sie lange nicht mehr gespürt hatte. Es war eine Mischung aus Angst und Hoffnung, wie ein Feuer, das man im Winter hütet.
In dieser Nacht träumte sie von einem Zug, der nie hielt. Von Gesichtern hinter Fenstern, die in der Dunkelheit verschwanden. Und von einem Hund, der allein zurückblieb, mit Augen, die wie offene Türen zu einer Vergangenheit waren, die niemand mehr betrat.
Am nächsten Morgen beschloss sie, tiefer zu graben. Sie wollte mit Wilhelm sprechen, länger, ausführlicher. Und vielleicht würde er ihr mehr erzählen, wenn sie ihm das Gefühl gab, nicht allein zu sein.
Doch als sie am Abend zurückkehrte, war das Haus leer. Die Tür stand offen, die Truhe lag umgestürzt, die Papiere verstreut. Wilhelm war fort. Kein Zettel, keine Spur. Nur Branko wartete, vor der Tür sitzend, als hätte er gewusst, dass sie kommt.
Hildegard spürte ein Stechen im Herzen. Sie nahm die Briefe aus der Truhe an sich. Vielleicht lag in ihnen die Wahrheit. Vielleicht die Antwort, warum ein Mann verschwinden konnte und ein Hund über Jahre an einem Bahnhof wartete.
Sie blickte auf Branko, dessen Fell vom Schnee feucht war. „Dann sind wir zwei es, mein Freund,“ sagte sie leise. „Du und ich. Wir finden heraus, wohin dein Herr gegangen ist.“
Der Hund neigte den Kopf, als verstünde er.
Und während draußen die Nacht erneut hereinbrach, ahnte Hildegard, dass die Spur sie nicht nur tiefer in die Geschichte eines Fremden führen würde. Sondern auch in ihre eigene.
Als sie die Briefe an sich nahm, hörte sie in der Ferne den Zug pfeifen und spürte, dass diese Reise erst begonnen hatte.