Winterpfoten am Bahnhof | Ein verlassener Bahnsteig, ein treuer Hund und eine Frau, die das Schweigen brach

🐾 Teil 5: Die Briefe im Schnee

Die Briefe lagen schwer in Hildegards Tasche, als sie nach Hause ging. Jeder Schritt durch den Schnee knirschte lauter, als würde die ganze Stadt lauschen. Branko trottete neben ihr, sein Fell nass, die Rute tief. Er wirkte, als wüsste er, dass die Worte, die sie trug, von Bedeutung waren.

Zu Hause legte sie die Briefe vorsichtig auf den Tisch. Es waren vielleicht ein Dutzend, in vergilbten Umschlägen, manche bereits brüchig, als könnten sie beim falschen Griff zerfallen. Sie setzte ihre Brille auf, atmete tief durch und öffnete den ersten.

„Liebe Anna,“ begann er, „die Tage sind leer, seit du gegangen bist. Ich gehe jeden Abend zum Bahnhof, nur um den Zügen zuzusehen. Sie erinnern mich an die Möglichkeit, dass man zurückkehrt. Aber du kommst nicht. Und ich weiß nicht, ob du je wiederkommst.“

Hildegard las weiter, Wort für Wort, und mit jedem Satz zog sich ihr Herz zusammen. Reinhard hatte an seine verstorbene Frau geschrieben, Jahre nach ihrem Tod. Briefe, die nie jemand empfangen konnte. Er schrieb, als wäre sie nur verreist, als könnte sie auf irgendeinem Bahnsteig eines Tages wieder aussteigen.

Der nächste Brief war kaum anders. „Ich habe Branko an meiner Seite. Er wartet, so wie ich. Manchmal glaube ich, er versteht besser als ich, dass die Tage ohne dich nur eine einzige Frage sind: Warum bist du fortgegangen?“

Tränen stiegen Hildegard in die Augen. Sie legte den Brief zur Seite, griff nach dem nächsten. Je tiefer sie las, desto klarer wurde das Bild eines Mannes, der sich in der Treue zu einer Erinnerung verloren hatte. Es gab keinen Hinweis auf sein eigenes Verschwinden, keine Spur, nur ein Herz, das nicht aufhören konnte zu warten.

Doch ein Brief, der letzte, war anders. Er war nicht an Anna gerichtet. Er trug keine Anrede, nur das Datum: 14. Januar 1987.

„Wenn jemand dies liest, dann ist es zu spät. Ich kann nicht länger am Gleis stehen und so tun, als würde jeder Zug eine Heimkehr bringen. Ich habe gesehen, wie andere weitergehen, und ich bleibe zurück. Heute Abend werde ich den Zug nehmen, aber nicht, um nach Hause zu kommen. Sondern um zu verschwinden. Wohin, weiß ich nicht. Vielleicht nach Osten, vielleicht einfach in die Dunkelheit. Branko wird verstehen. Er hat stärker gewartet als ich es je könnte.“

Hildegard legte den Brief ab, ihre Hände zitterten. Dies war die Spur. Reinhard hatte seine Entscheidung getroffen. Doch ob er den Zug je bestiegen hatte, wusste niemand.

Sie schaute zu Branko. Er lag auf dem Teppich, die Augen offen, als lausche er ihren Gedanken. „Du bist geblieben,“ flüsterte sie. „Er ist gegangen, aber du bist geblieben.“

Die Nacht verging ohne Schlaf. Hildegard wälzte die Briefe, wieder und wieder. Sie fragte sich, warum Wilhelm sie ihr überlassen hatte. Oder hatte er sie absichtlich zurückgelassen, weil er wusste, dass sie Antworten suchte?

Am nächsten Tag ging sie erneut zum Bahnhof. Der Bahnsteig war voller Pendler, Stimmen, Schritte, die von der Kälte dampften. Sie stellte sich auf Brankos Platz, sah auf die Schienen, stellte sich vor, wie Reinhard hier gestanden hatte. Vielleicht mit denselben Briefen in der Tasche. Vielleicht mit dem Gedanken, dass der nächste Zug ihn befreien würde.

Ein älterer Mann mit dicker Mütze, der auf den Zug wartete, sprach sie an. „Den Hund kenne ich. Der sitzt hier schon seit Jahren. Warten tut er, sagen die Leute. Aber auf wen, das weiß keiner.“

„Auf seinen Herrn,“ sagte Hildegard. „Auf Reinhard Klose.“

Der Mann blinzelte. „Den Namen habe ich lange nicht mehr gehört. Ich erinnere mich… damals war Gerede. Manche sagten, er sei in den Osten geflüchtet, noch bevor die Mauer fiel. Andere meinten, er sei einfach verschwunden, wie vom Boden verschluckt. Niemand wusste etwas Genaues.“

Hildegard nickte, doch ihre Gedanken rasten. Wenn Reinhard tatsächlich in den Osten gegangen war, vielleicht auf der Suche nach einem neuen Leben, dann gab es Spuren. In Archiven, in alten Fahrkarten, vielleicht sogar in den Erinnerungen von Menschen, die ihn noch gesehen hatten.

Am Abend kehrte sie zum Haus zurück. Wilhelm war immer noch verschwunden, keine Spur von ihm. Aber Branko führte sie hinein, als gehöre es ihnen beiden. Sie setzte sich an die Werkbank, legte die Briefe aus, ordnete sie nach Datum. Draußen schlug die Uhr der Kirche zehnmal, und die Stille danach war tiefer als zuvor.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch an der Tür. Ein Kratzen, als würde jemand versuchen, hineinzugelangen. Branko sprang auf, bellte heiser. Hildegard griff nach der Taschenlampe, ihr Herz raste. Doch als sie die Tür öffnete, war da niemand. Nur der Schnee, frisch gefallen, und Spuren von Schritten, die sich im Dunkel verloren.

Jemand beobachtete sie. Davon war sie nun überzeugt.

Am nächsten Tag suchte sie erneut das Archiv im Rathaus auf. Sie wollte mehr über Reinhard wissen, über seine Arbeit, über seine letzten Tage. Eine alte Registraturkarte gab ihr einen Hinweis: „Klose, Reinhard – Angestellter im Bahnbetriebswerk Bebra.“

Ein Eisenbahner. Es ergab Sinn. Seine Nähe zu den Zügen, seine Obsession mit dem Bahnhof.

Hildegard nahm sich vor, das alte Betriebswerk aufzusuchen. Vielleicht gab es dort noch jemanden, der ihn gekannt hatte. Jemand, der ihr mehr erzählen konnte.

Als sie am Abend wieder am Bahnhof stand, war Branko neben ihr, unbeirrt, treu. Der Zug fuhr ein, Türen klappten, Menschen stiegen aus. Doch Hildegard hatte das Gefühl, dass diesmal etwas anders war. Ein junger Mann, kaum dreißig, blieb stehen, sah auf den Hund.

„Der wartet immer noch?“ fragte er.

„Ja,“ sagte Hildegard. „Immer noch.“

Der Mann nickte, als erinnerte er sich. „Meine Mutter hat mir von ihm erzählt. Sie sagte, er war der Hund eines Mannes, der eines Tages nicht mehr nach Hause kam. Sie hat gesagt, man könne in seinen Augen sehen, was Treue bedeutet.“

Hildegard schluckte. „Das stimmt.“

Der Mann nickte erneut, dann verschwand er im Strom der Menschen. Hildegard blieb zurück, mit Branko an ihrer Seite. Sie wusste, dass die Spur nicht mehr nur in den Briefen lag. Sie lag im Bahnhof selbst, in den Schienen, im alten Betriebswerk. Dort musste sie suchen.

Sie sah zu Branko, der unbewegt auf die Schienen starrte. „Wir gehen weiter,“ flüsterte sie. „Dorthin, wo dein Herr gearbeitet hat. Vielleicht wartet dort die Antwort.“

Brankos Ohren zuckten, als hätte er die Worte verstanden.

Und tief in der Nacht, als Hildegard die Briefe noch einmal durchlas, bemerkte sie etwas, das sie zuvor übersehen hatte. Auf einem Umschlag, kaum sichtbar, war ein Fingerabdruck. Dunkel, fast wie ein Abdruck von Ruß.

Es war nicht Reinhards Schrift. Und plötzlich wusste sie, dass sie nicht allein nach der Wahrheit suchte.

In diesem Moment begriff Hildegard, dass jemand außer ihr die Briefe kannte und dass diese Person noch immer in den Schatten lauerte.

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