Winterpfoten am Bahnhof | Ein verlassener Bahnsteig, ein treuer Hund und eine Frau, die das Schweigen brach

🐾 Teil 6: Das Bahnbetriebswerk

Der Morgen war klar, die Sonne kämpfte sich nur mühsam durch die Wolken. Hildegard stand am Rand der alten Gleisanlagen, dort, wo das Bahnbetriebswerk von Bebra lag. Rostige Schienen, verlassene Werkhallen, kaputte Fenster. Die Anlage war seit Jahren stillgelegt, doch man konnte spüren, wie viele Leben hier einst gearbeitet hatten.

Branko lief voraus, die Nase tief über dem Boden, als suchte er nach einer Spur. Hildegard zog den Schal enger um den Hals. Sie fühlte sich wie eine Fremde, die in eine Welt eingetreten war, die längst hätte verschwunden sein sollen.

Eine alte Tür stand schief in den Angeln. Hildegard drückte sie auf, das Holz ächzte, und sie trat in die Halle. Drinnen war es kalt und feucht, der Boden übersät mit Schutt. Ein paar rostige Werkzeuge lagen noch herum, als hätten Männer sie in Eile fallen lassen.

Branko blieb vor einer Stelle stehen, an der der Boden dunkler war als anderswo. Er bellte nicht, aber er starrte, unbeweglich. Hildegard trat näher, kniete sich hin. Auf den Betonplatten war eine Spur, wie ein Abdruck von Öl oder vielleicht Ruß. Ein Muster, das aussah, als sei etwas Schweres hier lange gelegen.

„Hat Reinhard hier gearbeitet?“ murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Hund.

Eine Stimme aus dem Schatten ließ sie zusammenzucken. „Ja. Hier hatte er seinen Platz. Immer der Letzte, der ging.“

Hildegard wirbelte herum. Ein Mann trat aus der Dunkelheit, gebeugt, mit einem zerbeulten Filzhut. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Hände rau, als hätten sie Jahrzehnte Eisen berührt.

„Sie kannten ihn?“ fragte Hildegard, ihre Stimme noch unsicher.

Der Mann nickte. „Natürlich. Reinhard Klose. Ein stiller Arbeiter, aber verlässlich. Er sprach wenig, nur über seine Frau. Anna hieß sie. Als sie starb, war er nie mehr derselbe. Manchmal stand er hier, stundenlang, sah auf die Züge, als wartete er, dass sie ihn zurückbringt.“

„Und dann?“

Der Alte seufzte, rieb sich über das Gesicht. „Eines Abends kam er nicht mehr. Wir dachten, er sei krank. Doch er tauchte nicht auf. Niemand wusste, wo er geblieben war. Manche sagten, er habe einfach den Zug genommen und sei verschwunden. Andere flüsterten, er habe es nicht ertragen.“

Hildegard spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. „Was meinen Sie?“

Der Mann wich ihrem Blick aus. „Es gab Gerüchte. Manche sagten, er sei in den Fluss gesprungen, andere, er habe die Gleise gewählt. Aber nichts wurde je gefunden. Kein Körper, keine Spur.“

Branko legte die Pfoten auf den dunklen Fleck am Boden. Seine Augen ruhten auf Hildegard, als wollte er sie zwingen, tiefer zu fragen.

„Haben Sie jemals Beweise gesehen?“ fragte sie.

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein. Nur Geschichten. Aber ich weiß eines: Der Hund kam jeden Abend hierher. Selbst nachdem das Werk geschlossen wurde, wartete er. Wenn ein Zug vorbeifuhr, hob er den Kopf, als lausche er. So wie jetzt noch.“

Hildegard nickte langsam. „Er hat nicht aufgehört zu warten.“

„Nein,“ sagte der Mann. „Und vielleicht sollten Sie es auch nicht.“

Die Worte hallten in ihr nach. Als sie die Halle verließ, spürte sie, dass sie einer Wahrheit näherkam, die schwer zu ertragen war. Doch es blieb das Gefühl, dass etwas fehlte. Etwas, das nicht erzählt worden war.

In den nächsten Tagen beschäftigte sie sich weiter mit den Briefen. Sie las sie laut, in ihrem Wohnzimmer, während Branko neben ihr lag. Jedes Wort schien den Hund ruhiger zu machen, als hörte er die Stimme seines alten Herrn darin. Doch Hildegard spürte, dass nicht alle Briefe von derselben Hand stammten. Einer, der letzte, war anders. Härter, entschlossener. Die Schrift zitterte, als wäre sie in Hast geschrieben.

Eines Abends, als sie wieder am Bahnhof stand, bemerkte sie eine Gestalt am Rand des Bahnsteigs. Jemand, der sie beobachtete. Als sie hinsah, wandte er sich ab und verschwand im Dunkel. Branko knurrte leise.

Am nächsten Tag suchte sie Wilhelm auf. Doch er blieb verschwunden. Sein Haus war leer, nur ein paar Habseligkeiten lagen verstreut, als sei er in Eile fortgegangen. Hildegard fragte sich, ob er derjenige war, der die Briefe verändert hatte. Oder ob er mehr wusste, als er preisgegeben hatte.

Sie ging zurück zum Haus in der Schustergasse. Branko führte sie direkt hinein, ohne Zögern, als hätte er gewusst, dass noch etwas auf sie wartete. Die Truhe war leer, doch in einem Riss der Wand fand sie einen alten Schlüssel, klein, aus Eisen. Er war verrostet, doch er wirkte wichtig, wie ein Stück, das zu einem Schloss gehörte, das noch irgendwo existierte.

Am selben Abend träumte Hildegard von Reinhard. Sie sah ihn auf einem Bahnsteig stehen, die Briefe in der Hand, den Blick auf einen Zug gerichtet, der nie anhielt. Und Branko neben ihm, unermüdlich, treu, mit Augen, die alles verstanden.

Als sie erwachte, war ihr klar, dass sie den Schlüssel deuten musste. Sie nahm ihn mit zum Bahnbetriebswerk, suchte jede Tür, jedes Fach. Schließlich fand sie einen alten Spind, halb im Schatten, verrostet, aber verschlossen. Der Schlüssel passte.

Drinnen lag ein Bündel Papiere, sorgfältig in ein Tuch gewickelt. Sie zog es heraus, die Hände zitternd. Alte Fahrkarten, ein paar Notizen, und ein Tagebuch.

Sie schlug es auf. Die ersten Seiten waren voller Trauer um Anna. Worte, die den Schmerz eines Mannes zeigten, der den Halt verloren hatte. Doch weiter hinten änderte sich der Ton.

„Ich habe Dinge gesehen, die ich nicht hätte sehen dürfen. Es gibt Männer, die am Bahnhof Geschäfte machen, nachts, wenn niemand hinsieht. Sie sagen, es gehe um Transporte, um Dinge, die nie jemand melden darf. Ich habe zu viel gehört. Wenn sie merken, dass ich es weiß, bin ich verloren.“

Hildegard las weiter, das Herz hämmerte. „Vielleicht ist es besser, zu verschwinden, als in den Fängen dieser Männer zu enden. Wenn jemand eines Tages diese Zeilen liest, dann möge er wissen: Ich habe nicht freiwillig aufgegeben. Ich habe nur keine Wahl gehabt.“

Sie legte das Tagebuch ab, die Hände kalt. Reinhards Verschwinden war kein einfacher Abschied gewesen. Es war etwas Größeres, Dunkleres. Etwas, das sich in den Schatten des Bahnhofs verborgen hatte.

Branko saß neben ihr, die Augen glänzten im schwachen Licht. Es war, als wüsste er, dass sie die Wahrheit berührt hatte.

Doch in diesem Moment hörte sie wieder Schritte. Dieselben, die sie schon am Haus verfolgt hatten. Jemand war hier, im Betriebswerk, ganz in ihrer Nähe.

Sie drehte sich um, das Tagebuch fest an sich gedrückt. Ein Schatten bewegte sich zwischen den alten Wänden.

Diesmal jedoch war er näher als je zuvor.

Hildegard presste das Tagebuch an die Brust, als der Schatten nur noch wenige Meter entfernt zum Stehen kam.

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