🐾 Teil 7: Der Mann im Schatten
Hildegards Atem hing sichtbar in der Luft, als der Schatten näher kam. Ihre Finger krallten sich um das Tagebuch, als könnte es ihr Schutz sein. Branko stand vor ihr, die Muskeln angespannt, ein tiefes Knurren vibrierte in seiner Kehle.
„Wer ist da?“ rief sie, ihre Stimme zitterte, doch sie klang lauter, als sie es selbst erwartet hätte.
Die Schritte hielten inne. Einen Moment war nur das Tropfen von Wasser zu hören, das irgendwo von den alten Rohren fiel. Dann trat eine Gestalt aus dem Halbdunkel, langsam, ohne Hast. Ein Mann, älter, aber kräftig, mit einem Gesicht, das von Falten zerfurcht war. Seine Augen lagen tief, schwer von Dingen, die er nicht sagen wollte.
„Sie sollten hier nicht sein,“ sagte er mit rauer Stimme.
Hildegard wich keinen Schritt zurück. „Ich suche nach Reinhard Klose. Ich will wissen, was mit ihm geschehen ist.“
Der Mann verzog das Gesicht, als schmecke das Gespräch bitter. „Sie graben in etwas, das längst begraben ist.“
„Und doch bin ich hier,“ erwiderte sie. „Mit seinen Briefen. Mit seinem Tagebuch. Und mit dem Hund, der nie aufgehört hat zu warten.“
Die Augen des Mannes glitten zu Branko, der die Lefzen hob, bereit, zu springen, wenn Hildegard bedroht würde. Doch der Mann hob beschwichtigend die Hände. „Ich tue euch nichts. Aber Sie verstehen nicht, worum es hier geht.“
„Dann erklären Sie es mir,“ forderte Hildegard.
Es folgte ein langer Moment des Schweigens. Schließlich seufzte der Mann, als habe er jahrelang gegen die Worte angekämpft, die er nun loslassen musste. „Ich war damals auch im Betriebswerk. Ich sah, was Reinhard sah. Männer, die nachts Lieferungen umluden. Keine offiziellen Transporte. Kisten, die niemand registrierte. Sie sagten, es seien Ersatzteile, aber ich hörte anderes. Dinge, die nie hätten hier sein dürfen. Er fragte zu viel, er schrieb Dinge auf. Das war sein Fehler.“
Hildegard spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Und dann?“
„Eines Abends… war er verschwunden. Keine Spur. Kein Abschied. Nur der Hund blieb. Ich wusste, dass man ihm etwas angetan hatte. Aber ich hatte Familie, ich musste schweigen. Wer redete, verschwand mit.“
Seine Stimme brach. Branko knurrte nicht mehr, sondern senkte langsam den Kopf, als hätte er verstanden, dass hier keine Lüge lag.
„Sie hätten reden können,“ sagte Hildegard, ihre Stimme scharf wie Frost.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Manchmal ist Schweigen das Einzige, was das Leben bewahrt. Aber es frisst einen auf. Dreißig Jahre lang habe ich geschwiegen. Und jetzt stehen Sie hier, mit seinen Worten in der Hand. Vielleicht ist es Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt.“
Hildegard öffnete das Tagebuch. „Hier steht, dass er keine Wahl hatte. Dass er verschwinden musste. Aber nicht, wie.“
Der Mann wandte den Blick ab. „Vielleicht wollte er in den Osten. Vielleicht wollte er nur weit genug fort, um niemandem mehr gefährlich zu sein. Manche sagen, er habe es geschafft. Ich aber glaube, er kam nie weit. Ich glaube, er hat den Bahnhof nie verlassen.“
Die Worte schnitten wie ein Messer. Hildegard fühlte, wie die Kälte tiefer in ihre Knochen kroch. „Meinen Sie…?“
Der Mann nickte schwer. „Vielleicht liegt er näher, als wir denken.“
Die Halle war plötzlich stiller als zuvor. Jeder Schatten schien sich zu verdichten, jede Ecke zu flüstern. Hildegard fühlte, dass sie an der Grenze einer Wahrheit stand, die sie kaum ertragen konnte.
Der Mann trat zurück. „Ich habe Ihnen genug gesagt. Suchen Sie, wenn Sie müssen. Aber seien Sie gewarnt: Manche Dinge bringen keine Ruhe, wenn man sie findet.“
Dann verschwand er in der Dunkelheit, so leise, wie er gekommen war.
Hildegard blieb zurück, mit Branko an ihrer Seite. Sie sah ihn an, und in seinen Augen lag etwas, das sie nicht deuten konnte. War es Hoffnung? Oder das stille Wissen, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatte, zu einem Ende führen würde, das sie beide nicht wollten?
Am nächsten Tag saß sie wieder in ihrer Küche, das Tagebuch vor sich, die Briefe daneben. Sie las jede Zeile erneut, suchte nach einem Hinweis. Und sie fand ihn. Eine Notiz am Rand, kaum lesbar, in hastiger Schrift: „Altes Gleis, hinter Werkhalle 4.“
Hildegards Herz setzte aus. Das war ein Ort, den sie noch nicht durchsucht hatte.
Am Abend nahm sie eine Laterne, steckte das Tagebuch ein und machte sich mit Branko auf den Weg. Der Schnee knirschte, der Wind heulte, doch sie spürte nichts außer dem Drängen, das sie vorwärtstrieb.
Hinter der vierten Halle lag ein Gleis, halb überwuchert, fast vergessen. Sie leuchtete mit der Laterne, sah alte Holzbalken, verrostete Schienen. Branko schnüffelte hektisch, zog an der Leine, kratzte an einer Stelle, wo der Boden eingefallen wirkte.
Hildegard kniete nieder, fuhr mit der Hand über die gefrorene Erde. Da war etwas Hartes, Unebenes. Sie kratzte, zog, und schließlich kam ein Stück Stoff zum Vorschein. Dunkel, zerfetzt, alt.
Ihr Atem stockte. Branko jaulte leise, als hätte er etwas erkannt.
Sie grub weiter, mit bloßen Händen, das Herz hämmerte. Unter dem Stoff lag ein Metallstück. Kein Werkzeug, keine Maschine – ein altes Taschenmesser, eingeritzt mit den Initialen „R.K.“
Hildegard schloss die Augen. Dies war kein Zufall. Dies war ein Zeichen.
Sie konnte nicht weitermachen, ihre Hände waren taub von der Kälte. Doch sie wusste nun, dass hier etwas verborgen lag. Vielleicht Reinhards letztes Geheimnis. Vielleicht sein Grab.
Sie stand auf, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Branko drückte sich an ihr Bein, suchte Trost, und sie legte die Hand auf seinen Kopf.
„Wir finden es,“ flüsterte sie. „Wir bringen die Wahrheit ans Licht.“
Als sie zurückging, hörte sie in der Ferne den Pfiff eines Zuges. Es klang, als rufe jemand aus der Vergangenheit.
Und tief in der Nacht, als sie allein in ihrem Zimmer saß, schwor sie sich, dass sie den Ort wieder aufsuchen würde. Mit Schaufel, mit Mut, mit allem, was sie noch in sich trug.
Doch eine Frage brannte in ihrem Kopf: Wenn Reinhard nie fortgegangen war – wer hatte dann den letzten Brief geschrieben?
Hildegard starrte auf das Messer in ihrer Hand und begriff, dass nicht Reinhards Worte, sondern die Handschrift eines anderen das Ende besiegelt hatte.