🐾 Teil 8: Die verborgene Wahrheit
Der Morgen begann mit einem Himmel, der schwer auf den Dächern lag. Nebel zog durch die Straßen von Bebra, und Hildegard spürte, dass die Luft voller unausgesprochener Dinge war. Auf ihrem Küchentisch lag das Taschenmesser, daneben die Briefe und das Tagebuch. Sie hatte kaum geschlafen, das Bild der Fundstelle ging ihr nicht aus dem Kopf. Das alte Gleis, der Stoff, das Messer. Es war, als hätte die Vergangenheit ihre Hand nach ihr ausgestreckt.
Branko lag am Ofen, die Augen halb geschlossen. Doch als Hildegard nach dem Messer griff, hob er den Kopf und blickte sie fest an. Es war, als sage er: Wir sind noch nicht am Ende.
Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg zum Gleis. Sie trug eine kleine Schaufel in einer Tasche, die Laterne über der Schulter. Der Wind war kalt, aber sie fühlte die Wärme einer Entscheidung. Branko trottete neben ihr, seine Schritte zielgerichtet, als wüsste er genau, wohin es ging.
Die Stelle hinter der vierten Halle lag verlassen. Der Schnee war über Nacht dichter gefallen, doch die Erde darunter war noch locker, wo sie am Vortag gegraben hatte. Hildegard kniete nieder, begann zu graben, vorsichtig, Schicht um Schicht. Branko schnüffelte, bellte einmal leise, fast ermutigend.
Stunden vergingen, ihre Finger waren taub, der Rücken schmerzte, doch sie hörte nicht auf. Schließlich stieß die Schaufel auf etwas Hartes. Sie legte die Laterne näher, kratzte die Erde mit den Händen weg. Da war Holz. Ein Kasten, verrottet, aber noch erkennbar.
Sie öffnete ihn mit zitternden Fingern. Darin lagen persönliche Dinge. Ein Paar alte Schuhe, ein abgewetzter Ledergürtel, ein zusammengefalteter Mantel. Und darunter ein Bündel Papier. Sie zog es heraus, vorsichtig, damit es nicht zerfiel.
Es waren weitere Briefe. Nicht an Anna gerichtet, sondern Notizen an sich selbst. „Wenn sie kommen, werde ich mich verstecken. Aber wie lange? Ich habe Branko gesagt, er soll warten. Vielleicht wird er verstehen. Vielleicht wird er länger durchhalten als ich.“
Hildegard schluckte schwer. Jeder Satz war wie ein Schlag. Reinhard hatte geahnt, dass er verfolgt wurde. Dass er nicht sicher war. Doch das Letzte, was er schrieb, war eine einzige Zeile: „Wenn ich falle, dann hier.“
Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Briefe kaum halten konnte. Sie ließ sich in den Schnee sinken, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Branko setzte sich dicht neben sie, leckte ihre Hand, als wolle er sie daran erinnern, dass sie nicht allein war.
Plötzlich hörte sie Schritte. Diesmal nicht von fern, sondern nah. Sie blickte auf, die Laterne warf lange Schatten, und eine Gestalt trat aus dem Nebel. Wilhelm.
Sein Gesicht war bleich, seine Augen voller Dunkelheit. „Sie hätten es nicht finden sollen,“ sagte er leise.
Hildegard richtete sich mühsam auf. „Sie wussten es die ganze Zeit.“
Wilhelm nickte kaum sichtbar. „Ich wusste, dass er dort lag. Ich wusste, dass er nie fortgegangen war. Aber ich konnte es nicht aussprechen. Ich konnte nicht ertragen, es laut zu sagen. Und ich konnte nicht zulassen, dass jemand die Wunden erneut öffnet.“
„Sie haben den letzten Brief geschrieben,“ sagte Hildegard, ihre Stimme bebte. „Es war nicht seine Schrift. Es war Ihre.“
Wilhelm senkte den Kopf. „Ja. Ich wollte, dass die Leute glauben, er sei gegangen. Dass er selbst entschieden habe, zu verschwinden. Es war leichter, als ihnen zu sagen, dass er vielleicht ermordet wurde oder im Schatten jener Männer verschwand. Ich wollte ihn schützen, selbst im Tod.“
Hildegard spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. „Sie haben seinen Hund jahrelang warten lassen. Sie haben zugesehen, wie er Nacht für Nacht am Bahnhof saß, weil er an ein Versprechen glaubte.“
„Und was hätte ich tun sollen?“ rief Wilhelm, seine Stimme brach. „Den Menschen sagen, dass mein Bruder von Männern verschwunden gemacht wurde, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden? Dass ein Hund die Wahrheit länger bewahrt hat als ich? Ich war zu schwach.“
Branko knurrte tief, sein Blick bohrte sich in Wilhelm, als erkenne er die Schuld in dessen Herz. Hildegard trat näher, die Briefe fest in der Hand. „Vielleicht sind Sie schwach gewesen. Aber jetzt ist die Zeit, die Wahrheit auszusprechen. Sonst stirbt sie mit Ihnen.“
Wilhelm sah sie lange an, dann sanken seine Schultern. „Ich habe ihn beerdigt, so gut ich konnte. Ich habe den Kasten mit seinen Sachen hier vergraben. Ich konnte nicht mehr. Aber ich habe nie den Mut gehabt, Branko fortzuführen. Er hat mehr Stärke als ich. Mehr Treue.“
Die Worte brachen ihm die Stimme. Hildegard spürte Mitgefühl, aber auch Wut. Sie wusste, dass Wilhelm sein Leben lang in Scham gelebt hatte. Doch das änderte nichts an dem, was geschehen war.
„Ich werde es den Menschen sagen,“ sagte sie entschlossen. „Die Wahrheit. Dass Reinhard nicht einfach gegangen ist. Dass er gezwungen war zu verschwinden. Und dass nur ein Hund den Mut hatte, für ihn zu bleiben.“
Wilhelm nickte schwach. „Vielleicht ist es so besser.“
Sie standen lange schweigend am Gleis. Der Wind fuhr durch die leeren Hallen, irgendwo in der Ferne pfiff ein Zug. Hildegard fühlte, dass ein Kreis sich schloss. Doch noch war nicht alles gesagt.
Als sie die Briefe an sich nahm, fiel ein Zettel aus dem Bündel. Er war kleiner, fast unscheinbar, aber in klarer Handschrift verfasst. „Wenn jemand dies findet, vertraue er Branko. Er kennt den Weg. Er kennt die Antwort.“
Hildegard las den Satz immer wieder. Branko saß vor ihr, die Augen glänzten im Laternenlicht. Es war, als wisse er genau, was darin gemeint war.
Sie legte die Hand auf seinen Kopf. „Dann führ uns, Branko. Zeig uns, wohin er wollte.“
Der Hund stand auf, schüttelte den Schnee ab und blickte in Richtung der Gleise, die hinausführten aus der Stadt.
Und Hildegard wusste, dass die Reise noch nicht zu Ende war.
Branko wandte sich den Schienen zu, als lausche er einem Ruf aus der Vergangenheit und Hildegard spürte, dass er sie an einen Ort führen würde, an dem die letzte Wahrheit wartete.