Zugvogel mit vier Pfoten | Sein Lied war verstummt, doch der Hund kehrte zurück, Jahr für Jahr, ohne ein Wort

🐾 Teil 4: Die Stille kennt den Weg

Die Geige lag auf Annelores Schoß, als wäre sie nie fort gewesen.
Der Hund – Liedpfote – atmete ruhig neben ihr, sein Fell roch nach Erde und altem Laub.

Sie saßen lange dort, in dieser Lichtung im Wald, wo alles still war, als hielte die Welt den Atem an.

Man hörte nur den Wind, wie er durch die letzten Blätter fuhr, und das ferne Rufen eines Kuckucks.

Annelore wog das Instrument in den Händen.

Es war leichter, als sie erwartet hatte. Die Seiten staubig, aber gespannt. Das Holz voller feiner Kratzer, wie die Lebenslinien auf einer alten Hand.

Sie strich mit den Fingern über das Griffbrett.

„Du hast hier gewartet“, flüsterte sie.

Der Hund bewegte sich nicht.


Am Abend trug sie die Geige vorsichtig heim.
Kein Mensch kreuzte ihren Weg.

Die Laterne vor dem Haus brannte bereits, als sie die Stufen hinaufstieg.

Sie legte das Instrument auf den Tisch, neben das Reisebuch.

Dann holte sie einen Lappen, warmes Wasser, etwas Öl.

Mit langsamen Bewegungen begann sie zu reinigen, zu polieren.

Die alte Schrift auf dem Zettel, den sie in der Kiste gefunden hatte, war noch in ihrem Kopf.

„Diese Geige gehört dir.“

Sie hatte lange gebraucht, um das zu verstehen.


Am nächsten Morgen war Liedpfote nicht da.

Die Decke war leer. Das Wasser unberührt.

Annelore stand auf der Schwelle und wartete. Minutenlang.

Dann trat sie langsam auf den Weg hinaus.

Ihr Blick suchte die Straße, den Waldrand, das Feld.

Nichts.

Ein stichartiger Schmerz durchfuhr sie.

Doch sie sagte nichts.

Nur ein Gedanke blieb: Er war wieder auf Reise.


Zwei Tage vergingen.

Sie spielte in der Küche.

Zuerst nur einfache Tonleitern, dann Melodien aus dem Reisebuch.

Die Geige klang hell, fast zu lebendig für diese stillen Räume.

Manchmal glaubte sie, Schritte auf dem Flur zu hören.

Doch es war nur das Haus, das aufwachte.


Am dritten Abend saß sie wieder am Grab von Wolfram.

Die Geige im Arm.

Sie spielte leise, für sich selbst.

Die Töne flogen über die Steine, streichelten die Namen auf den Kreuzen, berührten das Moos.

Ein alter Mann, der vorbeiging, blieb stehen.

„Ich habe das Lied seit Jahren nicht mehr gehört“, sagte er.

Sie nickte, spielte weiter.

Als sie aufblickte, war er verschwunden.

Doch neben dem Grab lag ein kleiner Stein. Rund, glatt, warm vom Tag.

Jemand hatte ihn dort hingelegt.

Oder etwas.


In der Nacht konnte sie nicht schlafen.

Sie ging barfuß durch das Haus, blieb schließlich vor dem Spiegel im Flur stehen.

Ihr Gesicht war alt geworden.

Aber ihre Augen leuchteten.

Es war, als hätte etwas in ihr wieder Atem geschöpft.


Sie ging in den Garten.

Der Tau glänzte auf den Grashalmen.

Plötzlich bewegte sich etwas am Apfelbaum.

Ein Rascheln.

Ein Schatten.

Dann trat er heraus.

Liedpfote.

Nass, aber unversehrt.

In seinem Maul trug er etwas.

Ein altes Halstuch.

Rot, mit verblassten Punkten.

Sie kannte es.

Wolfram hatte es immer getragen, wenn er auftrat.

Der Hund legte es vor ihre Füße, setzte sich.

Annelore beugte sich hinunter, nahm das Tuch in die Hände.

„Wo hast du das gefunden?“

Er sah sie nur an.


Am nächsten Tag ging sie den Weg zurück zur Lichtung.

Der Hund lief voraus.

Er führte sie nicht zur Kiste.

Er bog weiter ab, tiefer in den Wald.

An einer Böschung blieb er stehen.

Zwischen zwei Felsen, unter einer schiefen Tanne, lag ein verrotteter Rucksack.

Sie erkannte ihn.

Wolframs alter Wandersack.

Sie zog ihn vorsichtig hervor.

Darin: ein Skizzenbuch, ein Metronom, ein Foto von ihr als junge Frau.

Und ein kleines Diktiergerät.

Alt, mit Kassette.

Sie hielt es gegen die Brust.

„Du warst da, als er ging.“

Der Hund legte sich hin, als würde er nicken.


Zuhause legte sie die Kassette in ihren alten Recorder.

Ein Knacken, dann ein Rauschen.

Dann Wolframs Stimme.

„Wenn du das hörst, bin ich vielleicht schon fort. Oder unterwegs. Ich weiß nicht, wohin. Aber wenn du es gefunden hast, war ich nicht allein.“

Ein leises Bellen im Hintergrund.

Dann: Musik.

Geigenspiel.

Ihr Lied.


Annelore weinte nicht.

Sie ließ die Aufnahme laufen.

Der Hund legte sich neben sie.

Und für einen Moment war alles wieder da.

Die Veranda. Der Sommer. Der Klang der Geige.

Und Milo.

Oder das, was von ihm geblieben war.

Ein Lied mit vier Pfoten.

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