Zugvogel mit vier Pfoten | Sein Lied war verstummt, doch der Hund kehrte zurück, Jahr für Jahr, ohne ein Wort

🐾 Teil 5: Der Klang, der blieb

Am nächsten Morgen lag der Rucksack auf dem Küchentisch.
Daneben die Kassette, das Tuch, die Geige.
Und Liedpfote, zusammengerollt auf dem Flickenteppich, mit einer Ruhe, die nur ein Wesen kennt, das seinen Platz gefunden hat.

Annelore saß am Fenster.
Sie hatte nicht geschlafen. Nicht richtig.
Zu viel in ihr war wach geworden.

Der Klang von Wolframs Stimme hallte noch in ihren Gedanken nach.
Nicht traurig.
Nur echt.

Der Moment, als das Band endete, war seltsam gewesen.
Wie das Schließen eines Buches, das man nie ganz zu Ende lesen wollte.

Sie legte eine Hand auf die Kassette.
„Du hast ihn nicht vergessen. Und er dich auch nicht.“

Der Hund hob den Kopf, gähnte lautlos, dann legte er ihn wieder ab.
Er wirkte alt in diesem Moment.
Nicht vom Körper her.
Vom Blick.


Am Nachmittag kam Post.
Ein großer Umschlag, handbeschriftet.
Der Absender: „Stadtarchiv Eisleben, Abt. Musikgeschichte“.

Annelore runzelte die Stirn.

Sie öffnete den Umschlag.

Darin: eine Kopie eines Zeitungsausschnitts von 1987.
Titel: „Der Wandergeiger von Mansfeld“
Ein Foto von Wolfram mit Geige, daneben Milo.
Darunter ein kurzer Text:

„Wolfram Hüttinger, Musiker, Geschichtenerzähler, und sein Hund Milo ziehen seit Jahren durch Mitteldeutschland. Ihre Auftritte sind rar, aber unvergessen.“

Auf der Rückseite ein handgeschriebener Zettel.

„Sehr geehrte Frau Vickermann,
wir hörten durch Herrn Bartel, dass Sie persönliche Unterlagen von Herrn Hüttinger besitzen. Wir würden uns freuen, das musikalische Erbe für unsere Sammlung aufzunehmen. Vielleicht kennen Sie jemanden, der seine Musik noch spielen kann?
Mit freundlichen Grüßen
F. Nebel, Archivleitung“


Annelore las den Brief dreimal.

Dann stand sie auf, griff zur Geige.

Sie spielte.

Nicht für das Archiv.
Für das Bild.
Für die Erinnerung.
Für den Hund.

Die Töne waren klarer als je zuvor.

Liedpfote hob den Kopf, spitzte die Ohren.
Ein Ton, langgezogen, vibrierte durch das Zimmer.

Und dann, plötzlich, geschah etwas, das sie nie vergessen sollte.

Der Hund heulte leise mit.

Nicht laut.
Nicht klagend.
Nur begleitend.

Ein Zweiklang.

Eine Verbindung.


Am Abend saßen sie im Garten.
Es war mild geworden.
Die ersten Bienen flogen.

Sie nahm das Reisebuch und schrieb auf eine leere Seite.

„Frühling 2025 – Er ist wiedergekommen. Vielleicht nicht Milo. Aber die Musik. Und das, was bleibt, wenn man nicht vergisst.“

Der Hund lag mit dem Kopf auf ihren Füßen.
Seine Augen halb geschlossen.

Sie flüsterte:
„Weißt du, sie wollen das in ein Archiv bringen. Seine Musik. Seine Geschichte. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin.“

Er blinzelte.

Dann hob er sich, ging zum Apfelbaum, kratzte an der Rinde.

Dort war eine alte Kerbe.

Ein Herz, eingeritzt, Jahrzehnte alt.
In der Mitte:
W + A

Ihr Atem stockte.

Sie hatte es vergessen.

Damals, als sie glaubte, sie könnte alles fühlen und nichts verlieren.


Sie trat zum Baum, legte die Hand auf das Holz.

„Ich bin geblieben, Wolfram. Ich war feige.“

Der Wind antwortete nicht.

Aber Liedpfote leckte ihre Hand.

Und sie wusste:

Nicht alles war verloren.


In den nächsten Tagen begann sie zu sammeln.
Notizen, Zeichnungen, Tonaufnahmen.

Sie stellte eine kleine Holzkiste zusammen, mit einem Stofffutter ausgekleidet.
Darin:
Die Kopie des Reisebuchs.
Ein Foto.
Ein handgeschriebener Brief an das Archiv.

Aber die Originale behielt sie.

Denn sie wusste:
Das Herz dieser Geschichte lag nicht in Papieren.
Sondern in Tönen.
In Wegen.
In Pfotenabdrücken, die kein Regen auslöschen konnte.


Eine Woche später klingelte es an der Tür.

Ein Mann, etwa vierzig, mit runden Brillengläsern und einem Akzent aus dem Norden.

„Friedrich Nebel. Stadtarchiv Eisleben. Ich hoffe, ich störe nicht.“

Annelore bot ihm Tee an.
Sie zeigte ihm das Geigenstück.
Er hörte still zu.

„Das ist… lebendig“, sagte er leise.
„Mehr, als wir je dokumentieren könnten.“

Sie nickte.
„Aber ohne das Dokument, wüssten viele nichts davon.“

Er sah sie an.
„Würden Sie es vielleicht einspielen? Für unser Tonarchiv?“

Sie zögerte.

Dann sah sie zu Liedpfote.

Er saß im Türrahmen, ruhig, wach, bereit.

Sie nickte.

„Ja. Aber nur mit ihm.“


Am nächsten Tag nahm sie in ihrem Wohnzimmer auf.
Fenster offen.
Vögel im Hintergrund.

Der Hund lag wie immer zu ihren Füßen.

Sie spielte das Lied, das Wolfram für Milo geschrieben hatte.

Der Klang schwebte durch den Raum.

Und blieb.

Lange, nachdem der letzte Ton verklungen war.


Als Herr Nebel sich verabschiedete, sagte er:

„Es gibt Geschichten, die überleben durch Tinte. Aber die wahren… die reisen auf anderen Wegen.“

Annelore lächelte.

„Wie Zugvögel.“

Er nickte.

„Oder wie Hunde.“


In der Nacht träumte sie von einem Feldweg.
Sie ging darauf barfuß.
Neben ihr: ein Hund mit Fleck am Ohr.
Vorneweg: ein Mann mit Geige.

Sie lachten nicht.
Sie redeten nicht.

Aber alles war gesagt.

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