🐾 Teil 6: Wenn der Frühling bleibt
Der April kam früh in diesem Jahr.
Die Sonne stand hell über den Feldern, und das Gras begann schneller zu wachsen, als man es mähen konnte.
Annelore saß im Garten. Die Geige auf dem Schoß, Liedpfote neben ihr, den Kopf auf den Vorderpfoten.
Es war still. Aber keine unangenehme Stille.
Eher eine, die Raum ließ für Erinnerung.
Seit der Aufnahme für das Archiv war etwas in Bewegung geraten.
Menschen hatten geschrieben.
Zwei Briefe kamen aus Bayern, einer aus Mecklenburg.
Alle mit ähnlichen Worten:
„Ich erinnere mich an ihn. An den Geiger mit dem Hund.“
Sie hatten ihn nicht vergessen.
Wolfram.
Und Milo.
Ein Mädchen aus Halle hatte sogar ein altes Polaroid geschickt.
Darauf: ein Mann mit Violine, ein Hund im Schatten eines Kastanienbaums.
Die Rückseite trug nur drei Worte:
„Echte Musik bleibt.“
Annelore hielt das Bild in den Händen wie einen Schatz.
Sie hatte es nie für möglich gehalten, dass sich jemand außerhalb von Biesenrode noch erinnerte.
Doch die Geschichte war weitergereist.
So wie Liedpfote.
So wie Musik.
Eines Morgens, als sie aus dem Fenster sah, bemerkte sie, dass der Hund nicht mehr auf seiner Decke lag.
Die Näpfe waren unberührt.
Die Gartentür stand offen.
Sie spürte kein Ziehen, keine Panik.
Nur eine stille Ahnung.
Er war wieder losgezogen.
Der Zyklus hatte begonnen.
Sie verbrachte den Tag in Ruhe, ging später zum Friedhof.
Das Grab war wie immer gepflegt.
Ein kleiner Kieselstein lag auf dem Grabstein.
Ganz oben.
So, wie man es macht, wenn man zeigen will:
„Ich war hier. Ich hab dich nicht vergessen.“
Sie hob ihn auf, legte ihn in die Tasche.
Dann setzte sie sich auf die Bank und spielte.
Das Lied klang vertraut.
Wie ein Gespräch ohne Worte.
Und in der Ferne glaubte sie, ein einzelnes Bellen zu hören.
Zwei Wochen vergingen.
Der Garten blühte auf.
Annelore bekam Besuch.
Ein junges Paar aus Dresden, mit Kind und Cello.
Sie hatten über das Archiv von ihr gehört.
Sie spielten im Garten, zu dritt.
Cello, Geige, Vogelstimmen.
Das Kind klatschte, der Wind trug die Töne bis zur Straße.
Es war kein Konzert.
Es war Erinnerung.
Lebendig gemacht.
Am Abend saß Annelore allein am Tisch.
In ihrer Teetasse spiegelte sich das letzte Licht.
Sie dachte an die Zeit.
Wie sie vergeht.
Wie sie sich auch manchmal beugt.
Denn manchmal kehrt etwas zurück.
In anderer Form.
Mit vier Pfoten.
Oder in einem Lied.
Drei Tage später, früh am Morgen, stand sie wieder am Zaun.
Etwas hatte sie geweckt.
Sie trat barfuß ins Gras.
Und da stand er.
Liedpfote.
Magerer.
Mit Blättern im Fell.
Aber derselbe Blick.
Sie kniete sich hin.
„Bist du müde, mein Freund?“
Er trat langsam zu ihr.
Und legte sich in ihre Arme.
In seinem Fell steckte ein kleiner Zettel.
Mit einer Sicherheitsnadel befestigt.
Sie zog ihn vorsichtig heraus.
Die Handschrift war fremd.
Aber die Worte klar:
„Er hat uns gefunden. Danke, dass Sie ihn geschickt haben.“
Kein Name. Kein Ort.
Nur das.
Ein Satz.
Der genügte.
Annelore weinte nicht.
Sie streichelte ihn.
Legte ihre Stirn an seine.
„Du trägst mehr, als viele Menschen je begreifen werden.“
Er schlief ein, ruhig, tief, wie nach einer langen Reise.
An diesem Abend spielte sie nicht.
Sie saß nur da.
Die Geige in der Ecke.
Der Hund zu ihren Füßen.
Die Luft voller Frühling.
In der folgenden Woche blühte der Flieder.
Sie schnitt einen Strauß, legte ihn ans Grab.
Neben dem Stein legte sie diesmal etwas anderes:
Das Halstuch.
Rot, mit Punkten.
„Es gehört euch beiden“, sagte sie.
Und ließ es los.
Der Hund blieb noch einige Tage.
Dann verschwand er wieder.
Nicht heimlich.
Einfach so.
Wie ein Wind, der weiterzieht, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat.
Annelore schrieb einen letzten Eintrag ins Reisebuch.
„Frühling 2025 – Er kommt nicht zurück, weil er weg war. Er kommt zurück, weil etwas bleiben will.“
Dann legte sie das Buch in eine neue Kiste.
Und stellte sie auf den Dachboden.
Nicht zum Verstauben.
Sondern zum Warten.
Auf jemanden.
Der vielleicht eines Tages eine Geige findet.
Und einen Hund.