🐾 Teil 7: Das Foto im Nebel
Es war ein grauer Mai-Morgen, als der Anruf kam.
Annelore war gerade dabei, den Frühstückstisch zu decken, als das Telefon klingelte.
Die Leitung knackte, eine junge Stimme meldete sich.
„Frau Vickermann? Hier spricht Leni Körting vom Heimatmuseum Quedlinburg.“
Annelore legte das Messer aus der Hand.
„Ja?“
„Wir haben hier eine Sammlung alter Fotos aus dem Nachlass eines gewissen Herrn Gustav Pruschke. Unter anderem… ein Bild mit einem Hund. Dreifarbig. Brauner Fleck am linken Ohr. Es ist beschriftet mit Ihrem Namen.“
Annelore schwieg.
„Wir wollten fragen, ob Sie dazu etwas sagen können. Oder ob Sie vielleicht selbst… auf dem Bild zu sehen sind?“
Sie atmete flach.
„Könnten Sie es mir schicken?“
„Natürlich. Ich scanne es gleich ein.“
Eine Stunde später war die Mail da.
Sie klickte auf das Foto, und der Bildschirm füllte sich mit einer verblichenen Szene.
Ein Dorfplatz. Ein junger Mann mit Geige, daneben ein Mädchen mit geflochtenem Zopf.
Und vor ihren Füßen: ein Hund.
Zottelig. Der Blick nach oben gerichtet.
Annelore erkannte sich sofort.
Das musste Sommer 1971 gewesen sein.
Sie wusste noch, wie Wolfram sie damals zum ersten Mal hatte begleiten lassen.
„Nur zuhören, nicht mitspielen“, hatte er gesagt.
„Aber manchmal reicht Zuhören, um zu verstehen.“
Und Milo, der Hund, hatte sich immer zu ihren Füßen gelegt, egal wo sie standen.
Sie druckte das Bild aus, rahmte es.
Es bekam einen Platz über dem Schreibtisch, direkt neben dem Reisebuch.
Darunter schrieb sie mit Bleistift:
„Damals begann das Lied.“
In den Tagen danach dachte sie oft an das Museum in Quedlinburg.
Sie rief zurück, bedankte sich, erzählte ein wenig.
Die Museumsleiterin fragte, ob sie das Bild öffentlich zeigen dürften.
„Es ist kein berühmter Musiker“, sagte Annelore.
„Aber vielleicht… ein erinnerter.“
„Das sind oft die wertvolleren.“
Zwei Wochen später bekam sie eine Einladung.
Eröffnung einer kleinen Sonderausstellung:
„Stille Töne – Der Wandergeiger von Mitteldeutschland“
Annelore faltete den Brief langsam zusammen.
Sie wusste nicht, ob sie hingehen wollte.
Wollte sie wirklich alte Wunden aufreißen?
Oder heilte man besser, wenn man andere teilhaben ließ?
Sie ging in den Garten, setzte sich neben den Apfelbaum.
Die Bank war feucht vom Tau.
Der Platz neben ihr leer.
Seit Liedpfote gegangen war, fühlte sich jeder Klang ein wenig dünner an.
Aber nicht bedeutungslos.
Am Tag vor der Ausstellung saß sie wieder am Grab von Wolfram.
Sie hatte ein weißes Tuch mitgebracht, spannte es über das kleine Kreuz, wie er es früher über seine Geige gelegt hatte.
Dann legte sie eine Notiz darunter.
„Morgen spielen sie dein Lied in Quedlinburg. Nicht laut. Aber wahr.“
Der Tag war kühl und sonnig zugleich.
Sie zog ihren Mantel an, nahm das kleine Lederetui mit der Geige.
Im Bus nach Quedlinburg saßen nur zwei weitere Fahrgäste.
Ein alter Mann mit Zeitung.
Und ein Junge mit Kopfhörern.
Keiner von beiden sah sie an.
Sie schaute aus dem Fenster.
Felder.
Wälder.
Stillgelegte Bahnhöfe.
Und irgendwann – Nebel.
Ein leichter Schleier, der sich über die Landschaft legte.
Wie Erinnerung.
Im Museum roch es nach Papier, Holz und vergangenem Leben.
Die Ausstellung war klein.
Aber liebevoll gemacht.
Fotos an Wänden.
Ein altes Tonbandgerät, das ein leises Stück spielte.
Und in der Mitte, eine leere Geige in einer Glasvitrine.
Nicht die originale.
Aber sie sah ihr ähnlich.
Annelore blieb davor stehen.
Sie hatte ihre eigene mitgebracht, sicher im Etui.
„Möchten Sie vielleicht… zum Abschluss etwas spielen?“
Die Frage kam leise.
Von der jungen Frau an der Kasse.
Annelore zögerte.
Dann nickte sie.
Sie nahm Platz auf einem einfachen Hocker.
Das Licht fiel gedämpft auf ihre Hände.
Sie spielte kein bekanntes Stück.
Nur das Lied aus dem Reisebuch.
Langsam.
Ehrlich.
Ein Besucher stand im Türrahmen.
Ein Paar aus Berlin hielt sich an den Händen.
Und irgendwo draußen bellte ein Hund.
Einmal.
Kurz.
Sie hielt inne.
Sah auf.
Da war niemand.
Aber sie wusste.
Er war da.
Nach dem Spiel klatschte niemand.
Aber das war gut so.
Manche Töne brauchen kein Echo.
Sie bleiben einfach.
Als sie das Museum verließ, legte sich ein feiner Regen über die Stadt.
Annelore zog die Jacke enger.
In der Tasche: das gerahmte Foto.
Der Rahmen war etwas angeschlagen, aber das Glas blieb heil.
Wie sie selbst.
Nicht neu.
Aber noch ganz.
Am Bahnhof stand ein kleiner Junge mit einem Mischlingshund.
Dreifarbig.
Die Pfoten schlammig.
Der Junge grinste.
„Er ist einfach so gekommen“, sagte er.
„Als wüsste er, wo ich bin.“
Annelore lächelte.
„Manche wissen das.“
Sie ging zum Zug.
Sah nicht zurück.
Denn sie wusste:
Wenn etwas bleiben will, dann findet es seinen Weg.