Zugvogel mit vier Pfoten | Sein Lied war verstummt, doch der Hund kehrte zurück, Jahr für Jahr, ohne ein Wort

🐾 Teil 8: Die Töne im Wind

Der Zug ruckelte langsam durch die Landschaft, und Annelore hielt die Stirn ans Fenster.
Der Regen hatte sich verzogen, aber der Himmel blieb bleigrau.

In ihrem Schoß lag das Etui mit der Geige, und auf dem Platz neben ihr die Tasche mit dem Foto.
Sie dachte an das Gesicht des Jungen mit dem Hund am Bahnhof.

So jung, so offen, so wenig überrascht davon, dass ein fremder Hund plötzlich da war.
Fast so, als hätte er gewusst, dass jemand auf ihn wartet.

Annelore lächelte still.

Vielleicht war es genau das.
Dass manche Wesen kommen, wenn sie gebraucht werden.
Nicht, wenn man ruft.


Zurück in Biesenrode roch es nach feuchtem Gras und nassem Stein.
Der Wind trieb lose Blüten über die Gassen, und ein Vogel sang irgendwo zwischen zwei Dachfirsten.

Annelore blieb einen Moment auf dem Dorfplatz stehen.

Es war ruhig.
Nicht ausgestorben.
Nur alt geworden.

Wie sie.


Zuhause legte sie die Geige an ihren gewohnten Platz, zündete eine Kerze auf dem Tisch an und nahm das Reisebuch in die Hand.

Sie blätterte langsam.
Über Seiten, die vom Lesen weich geworden waren.
Über Einträge, die sie längst auswendig kannte.

Doch heute blieb sie an einer Seite hängen, die sie bisher kaum beachtet hatte.

Oben stand:
„Spätsommer 1988 – Ich habe das Gefühl, er hört Dinge, die ich nicht höre.“

Darunter war eine Skizze.

Ein Hund, schlafend.
Und über ihm: wellenartige Linien, wie Wind.

Sie legte die Hand darauf.

„Töne im Wind…“, murmelte sie.

Vielleicht war das nicht nur eine Metapher gewesen.
Vielleicht hatte Milo tatsächlich mehr gehört als nur Musik.
Erinnerung. Sehnsucht. Rückkehr.


Am nächsten Tag fuhr sie zum Friedhof.
Nicht aus Pflicht, sondern aus innerem Drang.

Das Grab war wie immer.
Still.

Doch diesmal lag etwas auf dem Stein.

Ein Stück altes Papier, beschwert mit einem Kiesel.

Sie hob es vorsichtig an.

Es war ein Brief. Handschriftlich.
Sauber, klar, fremd.

„Ich weiß nicht, wer Sie sind. Aber der Hund hat uns hierhergeführt.
Mein Großvater kannte Wolfram Hüttinger. Sie haben einst zusammen musiziert.
Er wollte sich verabschieden.
Und der Hund… war zur Stelle.
Danke.“

Wieder kein Name.

Aber die Worte saßen tief.


Sie nahm den Brief mit.

Legte stattdessen eine Postkarte auf das Grab.

Ein altes Foto von Wolfram, sie selbst am Rand.
Rückseite:

„Erinnerung ist keine Richtung. Sie ist ein Kreis.“


Die Tage vergingen.

Annelore kehrte zurück zu einem Rhythmus.

Nicht dem alten.

Einem neuen.

Sie spielte jeden Morgen ein Stück.

Nicht für jemanden.

Einfach, weil es in ihr sang.


Und eines Morgens, ganz ohne Vorankündigung, lag er wieder da.

Liedpfote.

Sein Fell war verfilzt. Ein kleiner Kratzer an der Flanke.

Aber seine Augen waren wie immer.

Warm.

Wissend.

Er sah sie an, als wollte er sagen:

„Ich bin nur kurz weg gewesen.“


Sie ließ ihn in Ruhe.

Kein Rufen. Kein Streicheln.

Nur Nähe.

Er fraß nicht, trank nicht.

Lag einfach da.

Wie ein Stein am Flussbett, der nichts will außer bleiben.


Am dritten Tag trat sie mit der Geige in den Garten.

Er folgte ihr mit den Augen.

Sie spielte ein neues Lied.

Nicht aus dem Buch.
Nicht aus Erinnerung.

Sondern aus dem Jetzt.

Ein leises Stück, langsam, getragen.

Wie der Wind, der über alte Felder streicht.


Er stand auf.

Setzte sich direkt vor sie.

Und hob den Kopf.

Ein Laut kam über seine Lippen.

Kein Heulen.

Ein Ton.

Roh. Gebrochen.

Aber ehrlich.


Sie hörte nicht auf zu spielen.

Sie wusste:

Das war sein Lied.

Sein eigener Ton.

Der Klang, den er trug, so lange er lief.


Als sie endete, legte er sich hin.

Sein Kopf berührte ihre Fußspitze.

Und er schloss die Augen.

Nicht müde.

Angekommen.


Am Abend setzte sich ein Rotkehlchen auf die Fensterbank.

Es sang kurz, dann flog es weiter.

Annelore schrieb den Tag ins Reisebuch.

„Ein Ton im Wind ist auch ein Lied.“

Dann löschte sie das Licht.

Und schlief zum ersten Mal tief und ohne Traum.

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