🐾 Teil 9: Der Abschied, der blieb
Die Tage wurden wärmer.
Die Apfelblüten waren längst gefallen, und zwischen den Bäumen spannte sich das erste Sommerlicht wie ein hauchdünner Schleier.
Annelore saß im Schatten des alten Apfelbaums und schaute auf das Gras zu ihren Füßen.
Dort lag Liedpfote, eingerollt wie immer, doch sein Atem ging schwerer als sonst.
Er war stiller geworden.
Seine Augen suchten seltener den Horizont.
Er folgte ihr zwar noch in den Garten und setzte sich neben sie, wenn sie spielte.
Aber seine Pfoten bewegten sich vorsichtiger.
Als wüssten sie, dass jeder Schritt ein letzter sein könnte.
Annelore hatte keine Angst.
Nicht vor dem Ende.
Aber das Wissen, dass dieser Abschied näherkam, legte sich wie ein leichter Stein auf ihre Brust.
Sie öffnete das Reisebuch wieder.
Blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite.
Dann schrieb sie:
„Er ist kein Hund. Er ist ein Lied. Und Lieder sterben nicht. Sie werden leise.“
An einem Sonntagmorgen blieb er liegen.
Sie war früh aufgestanden, hatte Wasser gebracht, ein gekochtes Ei, das er sonst so mochte.
Aber er rührte sich nicht.
Nur seine Augen waren offen.
Sie sahen sie an, klar, ruhig.
Kein Schmerz.
Nur ein Blick, so tief wie ein letzter Ton.
Annelore setzte sich zu ihm, legte die Geige auf ihre Knie.
Sie sprach nicht.
Nur ihre Finger bewegten sich.
Sie spielte kein vollständiges Stück.
Nur Bruchstücke.
Melodien, die durch die Jahre getragen hatten.
Takte, die mehr sagten als jedes Wort.
Liedpfote atmete langsam.
Dann gar nicht mehr.
Sein Kopf sank seitlich, als hätte er sich ausgeruht.
Annelore streichelte ihm über das Fell, einmal, ganz leicht.
Dann schloss sie seine Augen.
Sie begrub ihn unter dem Apfelbaum.
Nicht tief, aber mit Bedacht.
Sie wickelte ihn in das rote Halstuch, das einst Wolfram gehört hatte.
Legte das kleine Foto aus Quedlinburg dazu.
Und ein Blatt aus dem Reisebuch, das sie herausgetrennt hatte.
Darauf stand:
„Für den, der kam, wenn niemand mehr wartete.“
Sie deckte die Erde zu, legte eine runde Steinplatte darauf.
Kein Name.
Nur ein eingeritztes Symbol.
Ein Notenschlüssel mit einer Pfote.
An diesem Abend spielte sie nicht.
Sie setzte sich auf die Bank, lehnte sich zurück und sah in den Himmel.
Die Sterne kamen langsam.
Einer nach dem anderen.
Und mitten zwischen ihnen zog ein Schwarm Vögel in nordwestlicher Richtung.
Annelore sah ihnen nach, bis sie verschwanden.
Dann schloss sie die Augen.
Und lauschte.
Nicht nach außen.
Sondern nach innen.
Am nächsten Tag kam Richard Henning vorbei.
Er sah das frische Grab unter dem Baum.
Blieb stehen.
Zog den Hut.
„Er war ein guter“, sagte er leise.
Annelore nickte.
„Er war mehr als das.“
Henning blickte auf das eingeritzte Zeichen.
„Warst du das?“
„Ja.“
Er kratzte sich am Bart.
„Nicht schlecht. Besser als jeder Name.“
Dann ging er weiter.
Ohne etwas hinzuzufügen.
Aber das musste er auch nicht.
In den folgenden Tagen kamen einige Kinder aus dem Dorf vorbei.
Sie hatten gehört, dass der Hund nicht mehr da sei.
Sie setzten sich zu Annelore auf die Bank, erzählten Geschichten.
Wie er sie begleitet hatte.
Wie er bei der alten Schule immer an der gleichen Stelle wartete.
Wie er nie gebellt hatte, aber immer genau wusste, wo er gebraucht wurde.
Eines der Mädchen, Clara, legte ein kleines Holzherz auf das Grab.
Selbstgeschnitzt.
„Für den Hund, der mich nicht kannte und doch bei mir blieb, als ich traurig war.“
Annelore schluckte.
Mehr als alles andere rührte sie dieser Satz.
An diesem Abend nahm sie das Reisebuch ein letztes Mal zur Hand.
Die letzte leere Seite war da.
Sie wartete.
Und Annelore schrieb:
„Manche kehren nicht zurück. Weil sie nie fort waren.“
Dann schloss sie das Buch.
Legte es in eine neue Schachtel.
Und stellte diese auf das Fensterbrett.
Nicht für sich.
Sondern für jemanden, der vielleicht eines Tages hierherkommt.
Und zuhört.
Am Friedhof stand noch immer das kleine Kreuz.
Annelore brachte eine Kerze vorbei.
Zündete sie an.
Dann stellte sie sich daneben.
Der Wind blies sanft.
Und irgendwo hinter ihr hörte sie ein Rascheln.
Sie drehte sich um.
Nichts.
Nur der Wind.
Oder ein leiser Schritt.
Vielleicht beides.