Zugvogel mit vier Pfoten | Sein Lied war verstummt, doch der Hund kehrte zurück, Jahr für Jahr, ohne ein Wort

🐾 Teil 10: Was auf dem Dachboden blieb

Der Sommer kam schneller, als man dachte.
Biesenrode stand in voller Blüte.
Die Linden entlang des Dorfplatzes verströmten süßen Duft, und über den Feldern flirrte die Hitze wie ein leiser Schleier.

Annelore ging langsamer in diesen Tagen.
Nicht aus Schwäche.
Aus Ehrfurcht.

Es war, als hätte die Zeit beschlossen, sich nicht mehr zu beeilen.

Sie stand oft am Fenster und lauschte.
Nicht auf Geräusche.
Sondern auf Stille.

Denn die Stille hatte sich verändert, seit Liedpfote gegangen war.
Sie war nicht leerer geworden.
Nur bedeutungsvoller.


An einem besonders warmen Nachmittag stieg sie erneut auf den Dachboden.
Der Staub lag schwer in der Luft.

Sie trug das Reisebuch bei sich, das sie nun nicht mehr lesen musste.
Jede Zeile war ihr eingeschrieben.

In einer der alten Kisten, die sie bisher nicht angerührt hatte, fand sie ein Päckchen.
Umwickelt mit Zeitungspapier aus dem Jahr 1990.

Sie löste die Kordel, schlug das Papier zur Seite.

Darin lagen mehrere Notenblätter.

Handschriftlich.

Oben stand:
„Zugvogel – Variationen in D-Moll“

Darunter:
„Für den, der mehr hört als wir.“

Sie setzte sich auf die Holzdiele, das Licht fiel durch ein schräges Fenster auf ihre Knie.

Zeile für Zeile verfolgte sie die Noten.

Und sie erkannte, was sie in all den Jahren übersehen hatte.

Das Stück war nicht nur Musik.
Es war eine Landkarte.

Jede Variation ein Ort.
Jede Tonart ein Weg.

Es war die Reise von Wolfram und Milo.

In Tönen erzählt.


Annelore stieg wieder hinunter, mit dem Bündel unter dem Arm.

Am Küchentisch breitete sie alles aus.

Sie wusste, was zu tun war.


Drei Tage später war sie in Eisleben.

Im Archiv empfing sie Friedrich Nebel erneut.

Er erkannte sie sofort.

„Sie sehen aus, als hätten Sie etwas bei sich, das bleiben will.“

Sie lächelte.

„Ich habe es nicht geschrieben. Aber ich kann es spielen.“

Er deutete auf den kleinen Saal neben dem Leseraum.

Dort stand ein altes Klavier, ein Mikrofon, ein Stuhl.

Mehr brauchte es nicht.


Annelore spielte die Variationen ein.
Ohne Wiederholung.
Ohne Probe.

Jede Note floss aus ihr heraus, als hätte sie nur darauf gewartet.

Am Ende war es still.

Nicht leer.

Still wie ein Ausatmen nach einem langen Weg.


Herr Nebel trat zu ihr.

„Wir werden es veröffentlichen.
Nicht groß.
Aber ehrlich.“

Sie nickte.

„Wie es sein soll.“


Wieder zurück in Biesenrode nahm sie einen Brief zur Hand.

An Clara, das Mädchen mit dem Holzherz.

Sie bat sie, ab und zu nach dem Grab unter dem Apfelbaum zu sehen.

Und schrieb:

„Wenn du eines Tages Musik hörst, obwohl keiner spielt, dann weißt du, dass er da ist.“

Sie steckte den Brief in einen Umschlag, ging zu Fuß zum Haus der Familie.

Claras Mutter öffnete, nahm den Brief wortlos entgegen.

Sie wusste, was er bedeutete.


In der Nacht träumte Annelore von einer Wiese.

In der Ferne ging ein Mann mit einer Geige.
Neben ihm ein Hund.
Nicht Milo. Nicht Liedpfote.

Aber einer wie sie.

Annelore stand barfuß im Gras.

Sie hob die Hand.

Der Mann drehte sich nicht um.

Aber der Hund blieb kurz stehen, sah sie an.

Dann folgte er.

Und in der Luft schwebte Musik.

Nicht gespielt.

Nur erinnert.


Am nächsten Morgen stand sie auf, als wäre sie neu geboren.

Sie setzte sich an den Tisch, nahm ein leeres Blatt und schrieb:

„Für den Nächsten, der sucht.“

Darunter legte sie das Notenheft.
Das Bild.
Das Halstuch.

Und das Reisebuch.

Sie verstaute alles in einer neuen Kiste, aus stabilem Holz.

Nicht zum Weggeben.
Zum Finden.


Sie stellte die Kiste wieder auf den Dachboden.
An denselben Ort wie damals.

Dann ging sie hinunter.
Setzte sich mit Tee auf die Bank unter dem Baum.

Der Wind bewegte kaum die Blätter.

Aber er war da.

Sie schloss die Augen.

Und in der Stille hörte sie es.

Ein Ton.

Vielleicht nur in sich.

Vielleicht aus der Ferne.

Aber er war da.


🎻
Es gibt Lieder, die nicht geschrieben werden.
Sondern gegangen.

Es gibt Hunde, die keine Namen tragen.
Nur Melodien.

Und es gibt Abschiede,
die nicht enden.
Weil sie weiterwandern.

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