Zwischen Müll und Hoffnung | Sie sammelte Flaschen zum Überleben bis ein halbverhungerter Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 4: Heimkommen?


Marlies starrte lange auf das Bahnticket.
Die Druckschrift war klar, das Datum lag nur zwei Tage voraus.
Die Zugverbindung führte von Pirmasens Nord nach Dachau, mit Umstieg in Mannheim.

Und darunter, auf einem schlichten Blatt Papier, stand nur ein einziges Wort.

„Heimkommen?“

Keine Unterschrift. Kein „Deine Tochter“. Keine Erklärung.

Aber es war genug.

Sie faltete das Ticket langsam zusammen, legte es zurück in den Umschlag und schob ihn unter das Kopfkissen.
Ihr Herz klopfte schneller als sonst, nicht vor Angst, sondern vor etwas anderem.
Etwas, das sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.

Eine Tür war offen.


Am Nachmittag kam die Schwester wieder, diesmal mit einem Kalender in der Hand.
„Also, wenn Sie am Donnerstag rauskommen wollen, müssen wir bis Mittwoch alles fertig haben: Reha absagen, Medikamente mitnehmen, Arztbrief kopieren. Schaffen wir das?“

Marlies nickte.

„Ich fahr. Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber ich fahr.“

Die Schwester lächelte.
„Und Baldo?“

„Der kommt mit. Oder ich bleib hier.“

„Dachte ich mir.“


In der Stadt war es inzwischen kalt geworden.
Die Scheiben im Krankenzimmer beschlugen morgens, und Marlies hörte die Kinder aus der Schule gegenüber husten und lachen.
Sie stand mittlerweile selbst auf, langsam, aber ohne Hilfe.

Baldo wich ihr nicht von der Seite.
Selbst beim Duschen wartete er davor, mit gesenktem Kopf.

Einmal kam ein junger Arzt herein, der neu auf der Station war.
Er betrachtete Baldo skeptisch, runzelte die Stirn.

„Eigentlich sind Tiere hier nicht erlaubt.“

Marlies sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
Dann hob Baldo langsam den Kopf und starrte den Arzt an.

Es war ein ruhiger Blick, aber fest.
Der Arzt seufzte.

„Na gut. Ausnahmeregelung. Ich will aber keine Pfützen sehen.“

„Wird es nicht geben“, sagte Marlies.
„Er ist sauberer als die meisten Menschen.“


Am Abend schrieb sie einen Brief.
Handschriftlich, auf dem karierten Papierblock vom Krankenhaus.

Liebe Marie,

ich weiß nicht, ob das, was ich mitbringe, noch in dein Leben passt.

Es ist nicht viel – eine Tasche mit alten Sachen und ein Hund, der mich mehr versteht als jeder Mensch in den letzten Jahren.

Aber falls du es ernst meinst mit dem Heimkommen, dann werde ich da sein.

Donnerstag. Zug 13:42.

Deine Mutter.

Sie übergab den Brief der Schwester.
„Kannst du ihn scannen und per Mail schicken? Ich weiß, dass sie so was nutzt.“

Die Schwester nickte.

„Mach ich. Und dann?“

„Dann pack ich.“


Die Tasche war schnell gefüllt.
Ein Paar warme Wollsocken. Zwei Blusen. Das Foto von Baldo, das die Journalistin gemacht hatte.
Eine kleine Decke, die sie selbst gehäkelt hatte.
Und ein altes Portemonnaie mit genau 37,50 Euro.

Sie wollte keine Almosen.
Aber sie wollte auch nicht mit leeren Händen ankommen.

Am Vorabend vor der Abreise kam Jule Breidenbach noch einmal vorbei.
Sie brachte ein Heft mit eine Ausgabe der „Südwest-Zeitung“.

Auf dem Titel: Ein Bild von Marlies und Baldo.
Darunter: „Herzschlag gegen die Kälte. Wie ein Hund eine alte Frau zurück ins Leben führte.“

Marlies lächelte.

„Ihr schreibt das so schön. Fast zu schön.“

Jule lachte.

„Es stimmt doch. Und du wirst sehen: Die Geschichte endet nicht hier.“


Am nächsten Morgen war es frostig.
Die Schwester kam früh, brachte einen Kaffee in einem Becher mit Herzaufdruck.
„Hab ich geklaut aus der Kantine. Der ist für dich.“

Marlies zog ihre Wolljacke über, setzte sich langsam auf.
„Baldo? Komm.“

Der Hund stand sofort da, als hätte er den Fahrplan im Kopf.

Die Schwester begleitete sie bis vor die Tür des Krankenhauses.
Draußen wartete ein Taxi.

„Ich hab’s bestellt. Bezahlt ist auch. Von einem anonymen Spender.“

Marlies schluckte.

„Wie viele Menschen plötzlich da sind, wenn man am wenigsten erwartet.“

Die Schwester legte ihre Hand auf Marlies’ Schulter.

„Vergiss uns nicht. Und ruf an, wenn du angekommen bist.“


Im Zugabteil war es warm.
Baldo lag zu ihren Füßen, den Kopf auf ihrer Tasche.
Die anderen Fahrgäste warfen abwechselnd neugierige und gerührte Blicke.

Ein Mann mit Glatze und Zeitungsbrille tippte ihr auf die Schulter.

„Ist das der Hund aus der Zeitung?“

„Ja“, sagte Marlies leise.

Der Mann nickte.

„Guter Hund. Gute Frau.“

Dann ließ er sie in Ruhe.

Die Landschaft zog vorbei.
Flache Felder, alte Güterbahnhöfe, Dörfer mit schiefen Kirchtürmen.

Und Marlies fragte sich, ob sich ein Leben wirklich nochmal wenden konnte, mit über siebzig.
Ob eine Tochter, die so lange geschwiegen hatte, plötzlich wieder Platz im Herzen machte.
Ob der Hund, der einst im Müll lag, nun in einem Garten rennen durfte.


Als der Zug in Dachau einfuhr, hielt Marlies den Atem an.
Sie stand auf, langsam, stützte sich am Geländer.

Baldo sprang nicht, aber er war wach, aufmerksam, bereit.

Am Bahnsteig stand eine Frau mit grauem Mantel.
In der Hand hielt sie einen Thermobecher.
Ihr Gesicht war schmaler geworden, die Haare kürzer.
Aber es war Marie.

Sie sah aus, als habe sie nicht geschlafen.
Und als sie ihre Mutter sah, hob sie nur die Hand.

Keine Umarmung. Kein Wort. Nur dieses Nicken.
Und es reichte.

Marlies trat aus dem Zug.
Baldo folgte ihr.

„Hallo“, sagte Marie.

„Hallo“, antwortete Marlies.

Sie standen still.

Dann ging Marie auf die Knie und streichelte Baldo.
„Du bist wohl der Grund, warum sie wieder da ist.“

Baldo leckte ihre Hand.
Und es war, als hätte er es verstanden.


Im Garten wartete etwas auf sie, kein Mensch, kein Tier, sondern ein altes, verrostetes Vogelhaus mit einem Namen darunter, den Marlies längst vergessen hatte.

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